2008
01/01/2009ANALYSE : Mexiko – Menschenrechte und Sicherheit; ein unlösbares Rätzel?
30/04/2009Das Jahr 2008 war von einer Preiserhöhung der Basisprodukte, Benzin und Strom auf nationalem Niveau gekennzeichnet. Auf der anderen Seite kam es zur vollständigen Öffnung des landwirtschaftlichen Kapitels welches ein Teil des Freihandelsvertrages von Nordamerika ist (Tratado de Libre Comercio de América del Norte [TLCAN], welcher 1994 von Mexiko, den USA und Kanada unterschrieben wurde), und was die Situation noch mehr verschlimmert hat. Es hatte zur Folge, dass der Import von Körnern wie Bohnen und Mais nun steuerfrei ist genau wie der von Milchprodukten und Ölen. Die Bauern, die Opposition und verschiedene Wissenschaftler betrachteten dies als „Gnadenschuss“ für die mexikanische Landwirtschaft. 7 Mio. der mexikanischen Bevölkerung leben in extremer Armut. Das sind ca. 20% der Gesamtbevölkerung.
Während der soziale Missmut wuchs, hat die Regierung eine Tendenz der „harten Hand“ an den Tag gelegt, sowie die Militarisierung fortgesetzt, welche mit dem erklärten Krieg gegen den Drogenhandel und das organisierte Verbrechen verknüpft ist. Jedoch, und das obwohl täglich 45.000 Militärs ausgesandt wurden, konnten sie die Gewalt nicht reduzieren, die den kriminellen Netzwerken zugerechnet wird (man schätzt mindestens 5.400 Tote). Im Gegenzug nahmen die Anzeigen wegen Verletzungen der Menschenrechte durch die Streitkräfte erheblich zu und mit ihnen die verstärkte Kriminalisierung von sozialen Protesten. In diesem Sinne wurde im März die Verabschiedung einer Strafreform in Frage gestellt, weil sie erhebliche Rechtslücken aufweist und somit die Legalisierung eben dieser Kriminalisierung offen lässt (wie z.B. die Figur des arraigo, ähnlich dem Arrest oder der Ingewahrsamnahme).
Auch das Projekt der Energiereform, welches Felipe Calderón im April präsentierte, rief starke Auseinandersetzungen hervor und mobilisierte weitreichende Sektoren.
Diese Initiative beabsichtigte die Wiederbelebung des Erdölsektors (Haupteinnahmequelle in Mexiko) durch mehr Ressourcen für das staatliche Erdölunternehmen PEMEX. Der Nationale Demokratische Kongress (Congreso Nacional Democrático), angeführt von Ex-Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador (AMLO), und die Breite Front der Fortschrittlichen (Frente Amplio Progresista, FAP, welche die Hauptparteien der Linken vereint: Partei der demokratischen Revolution [PRD], Partei der Arbeit [PT], und die Partei Konvergenz) haben in Mexiko-Stadt und anderen Bundesstaaten Aktionen des friedlichen zivilen Widerstandes durchgeführt, um eine Privatisierung von PEMEX zu verhindern.
In diesem wenig ermutigenden nationalen Panorama und von anderen Prioritäten seitens verschiedener sozialer Bewegungen geprägt, gab es nur eine kleine journalistische Notiz über die Schließung der Koordination für Dialog und Verhandlung in Chiapas im April aus „Spargründen und angesichts dessen, dass ihre Existenz nicht gebraucht wird“. Jedoch hatte die Gruppe „Frieden mit Demokratie“ (ein Zusammenschluss mexikanischer Persönlichkeiten und Intellektueller) im Februar von einer „neuen Phase des Krieges in Chiapas“ gesprochen und prangerte an: „Episoden von Diebstahl, Brandstiftung, Toten, Todesdrohungen, Landraub wechseln sich ab. Es handelt sich darum, die aufständischen Gemeinden von ihrem Land und Boden zu vertreiben“.
Seit der zweiten Maihälfte haben sich die polizeilichen und militärischen Operationen in den indigenen Regionen so vermehrt wie schon seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr. Besonders (aber nicht ausschliesslich) in zapatistischen Gemeinschaften des Urwaldes und in der nördlichen Zone. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (CDHFBC) sprach von einer „Logik der Aufstandsbekämpfung“, in welcher sie „mit einer taktischen Verteilung in Gegenden organisierter Zivilbevölkerung mit rechtmäßigen sozialen Forderungen“ operieren und welche „ihnen ebenfalls erlaubt, die Antwort der Bevölkerung auf diese Operationen zu beobachten“.
Jorge Lofredo vom Zentrum für Dokumentation der bewaffneten Bewegungen hat bei der Buchpräsentation von „Kassensturz„, welches ein umfassendes Interview mit dem Subcomandante Marcos enthält, eine von dessen Feststellungen hervorgehoben: „Uns geht es wie 1993, aber umgekehrt. (…) Nun ist es die Regierung, die den Angriff vorbereitet“. In derselben Präsentation betont er: „Auch wenn es mehrmals Ankündigungen bzgl. von Einsätzen von Militärs in der zapatistischen Zone gab, welche sich nicht konkretisiert haben, ist zu bedenken, dass die Durchführung der militärischen Strategie praktisch darin besteht: konstante Belagerungen oder Drohungen mit eben diesen, welche auf eine Reaktion der EZLN und der Nichtregierungsorganisationen spekulieren, damit sie in Gleichgültigkeit oder Missgunst fallen bis sich diese Einsätze schliesslich doch ergeben“.
Allgemein betrachtet hatte das soziale Konfliktpotential im Bundesstaat mit dem Widerstand gegen die hohen Stromtarife zu tun sowie mit sozialen Projekten im Allgemeinen und wirtschaftlichen im Besonderen: dem Transport (wie z.B. die Ankündigung der Autobahn zwischen San Cristóbal und Palenque), dem Tourismus („thematische Parks“ in Palenque und bei den Wasserfällen von Agua Azul) und der wirtschaftlichen Entwicklung (Naturschutzgebiete wie Huitepec oder das Biosphärenreservat von Montes Azules sowie Minenprojekte u.a.). Anzumerken ist, dass am 28. Juni der zehnte Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Rahmen des Mechanismus ‚Dialog und Absprache von Tuxtla‘ tagte, welcher die Ziele des Plan Puebla Panamá bestätigte und das Projekt mit einem neuen Namen versah: „Projekt Mesoamerika“.
Ein weiterer aufsehenerregender Prozess der Organisierung innerhalb der Gefängnisse fand zwischen März und April statt, als 48 Häftlinge in 3 chiapanekischen Gefängnissen in Hungerstreik traten, um ihre willkürlichen Festnahmen aufgrund von politischen und/oder sozialen Aktivitäten anzuklagen. Diese Festnahmen fanden auf der Basis falscher Tatsachen und Beschuldigungen statt und mit deutlichem Verstoss gegen ihre Rechte. Einige von ihnen (in San Cristobal de las Casas) haben sich in „Die Stimme von Los Llanos“ integriert, während andere sich in der „Stimme von El Amate“ (im Gefängnis von Cintalapa) organisierten. Beide Gruppen gehören der Anderen Kampagne an, initiiert von der EZLN. Dieser Protest hatte die Befreiung von Hunderten von Häftlingen zur Folge.
Ein anderer Prozess, der nicht an die Opposition gekoppelt war, fand am 3. Oktober statt: Bei einem gewaltsamen Einsatz von kommunalen und staatlichen Polizisten starben 6 Menschen (4 von ihnen wurden nach Angaben der Bevölkerung exekutiert), ausserdem wurden 17 verletzt und 36 verhaftet. Fast alle waren Bewohner der Gemeinde Miguel Hidalgo, im Landkreis La Trinitaria. Seit September hatten die Gemeindemitglieder die Mayaruinen von Chincultik, gegenüber von ihrer Gemeinde, besetzt mit dem Ziel, die archäologische Stätte selbst zu verwalten. Nach den Ereignissen gab das Innenministerium von Chiapas zu, dass kein Räumungsbefehl existiert hatte. Der Kongress von Chiapas hat daraufhin ein Gesetz verabschiedet, welches das Vorgehen der Polizei in diesen Fällen regeln soll.
Die Internationale Zivile Kommission für Menschenrechtsbeobachtung (Comisión Civil Internacional de Observación por los Derechos Humanos, CCIODH), erklärte diese Episode als beispielhaft für die Regierungspolitik, welche die sozialen Proteste kriminalisiert, die politischen Entscheidungen und Konfliktdialoge delegiert und welche mit Abfindungen versucht, institutionelle Verantwortung zu verschleiern. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas hat ebenfalls erklärt: „Es besteht ein grosses Risiko, dass das Massaker von Chinkultic, wie andere auch, unbestraft bleibt und die Sanktion der Verantwortlichen nur den unteren Sektor des öffentlichen Dienstes erreicht“.
Im September kündigte die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) das Erste Weltweite Festival der Würdigen Wut an, das in der letzten Dezemberwoche und Anfang Januar in Mexiko-Stadt und Chiapas stattfand. Das Kommuniqué erklärte: „Der Überdruss gegen den Zynismus und die Inkompetenz der traditionellen politischen Klassen hat sich in Wut verwandelt. Manchmal folgt auf diese Wut Hoffnung auf eine Veränderung auf dem gewohnten Wege und wird entweder von der Desillusion, die unbeweglich macht, oder von sich aufdrängenden Kräften aufgehalten. Aber oft gibt es so viele Momente, die uns das Lachen abzwingen, die Wut sucht ihre eigenen Wege, neue, andere. Und das „Nein“, welches sie erhoben hat, leistet nicht nur Widerstand, sondern beginnt vorzuschlagen und sich vorzunehmen“.