SIPAZ Aktivitäten (Juli – September 2004)
30/09/20042004
31/12/2004Das Nichtzahlen des Stroms und der „Tarif besseres Leben“
Im Dezember ist es ein Jahr her, daß die Regierung des Bundesstaats Chiapas mit der Staatlichen Elektrizitätskommission (CFE), die den Strom an die mexikanische Bevölkerung liefert, einen Vertrag geschlossen hat. Mit diesem Vertrag wurde das Programm „Tarif Besseres Leben“ (TVM) begonnen, das bis 2006 läuft. gemäß dem Gouverneur von Chiapas sind seine Ziele: die „Kultur des Nichtzahlens“ beenden, das Zeitalter der „Mitverantwortung“ einläuten und einen gerechten Stromtarif für alle Chiapaneken erreichen.“ Vereinbart wurden eine Begnadigung derer, die aufgrund ihres sozialen Kampfes gegen die ungerechten Strompreise im Gefängnis saßen sowie die Einstellung aller Strafverfolgung gegen sie.
Das Steigen der Stromtarife und die Konsequenzen aus dem Nichtzahlen sind eines der Hauptprobleme in den Gemeinden in Chiapas. Das haben die verschiedenen Gruppen bestätigt, mit denen wir bei unserem kürzlichen Besuch in der Nördlichen Zone (Bezirk Tila) gesprochen haben. Im gleichen Sinn bemerkte der Rat der Guten Regierung von Roberto Barrios (der für diese Zone zuständig ist), daß die Konflikte um den Strom und mit der CFE das Hauptproblem während des ersten Jahres ihres Bestehens waren.
Die Überteuerung des Stroms ist weder eine Besonderheit der Bezirke der Nördlichen Zone noch des Staates Chiapas. Im Bundesstaat Tabasco (der an Tila angrenzt) bezahlen 52% der Bevölkerung seit zehn Jahren keinen Strom und stellen damit eine der wichtigsten Widerstandsbewegungen des Landes dar. Initiiert wurde diese Bewegung durch López Obrador (damals Gouverneurskandidat der Revolutionären Demokratischen Partei, PRD, und heute Gouverneur von Mexiko-Stadt) angesichts des Wahlbetrugs, der den Kandidaten der Institutionellen Revolutionspartei, PRI, in das Amt des Gouverneurs brachte (El Universal, 30.10.2004).
Es sei aber daran erinnert, daß der Bezirk Tila nach dem zapatistischen Aufstand die meiste Gewalt erlitt. Hier formte sich die Gruppe „Desarrolly, Paz y Justicia“ („Entwicklung, Frieden und Gerechtigkeit“), die beschuldigt wird, paramilitärisch zu agieren und Furcht, Vertreibungen und Tod unter denen zu verursachen, die nicht dieser Gruppe angehören und zur EZLN oder anderen oppositionellen Gruppen gegen die PRI-Regierung, wie die PRD oder Abu Xu (eine Koalition zivilgesellschaftlicher Gruppen) zuzurechnen sind.
Momentan betrifft die Stromüberteuerung alle Gruppen in den Gemeinden, auch wenn sich die Antworten auf das Problem je nach Organisationszugehörigkeit unterscheiden. Dieses Problem verschärft die durch den Konflikt entstandenen sozialen Risse und besorgt diejenigen, die die Region kennen.
In den Gemeinden der Nördlichen Zone hat jede Familie durchschnittlich drei Glühbirnen; nur eine Minderheit besitzt Elektrogeräte wie Kühlschrank oder Fernseher; das Licht wird nur zwischen 19 und 21 Uhr angeschaltet da ihr Lebensrhythmus mehr mit dem Sonnenverlauf übereinstimmt. Viele Gemeinden haben erst kürzlich Strom bekommen, in einigen wie Jolnixtié hatten in der härtesten Zeit des Konflikts nur die PRI-Anhänger diese Leistung.
Am Anfang hatten sie Rechnungen von 15-20 mexikanischen Pesos [ca. 1,15-1,53 Euro] pro Familie, aber in letzter Zeit stiegen sie auf 50, 80, 300 oder 500 Pesos, ohne daß sich der Stromverbrauch durch die Familien in gleichem Maße erhöht hätte. Wir sprechen von Familien, die nicht einmal den Mindestlohn von 1200 Pesos pro Monat zur Verfügung haben, weshalb es ihnen unmöglich ist, die Rechnungen zu bezahlen, was zu Schulden in Höhe von Tausenden von Pesos führt. Zu den Zahlungsschwierigkeiten kommt die Präsenz der CFE-Funktionäre hinzu, die daraufhin die Stromleitungen kappen, was zu gewalttätigen Reaktionen von seiten der empörten Bevölkerung führt, die die im Verhältnis zu den ökonomischen Bedingungen unangemessenen Strompreise nicht bezahlen kann.
In diesem Zusammenhang präsentiert sich der „TVM“ wie der Ausweg aus diesem Konflikt durch den Dialog. In diesem Programm wird ein zweimonatlicher Mindestverbrauch von je nach Region 300 oder 400 kWh festgelegt, ab dem die Konsumenten einen Rabatt von 51% für die ersten kWh und 12% für die nächsten 100 kWh bekommen. Aus Mangel an Information dachten viele Konsumenten, der neue Tarif würde bei null anfangen, also die Schulden streichen. In Wirklichkeit bedeutet jedoch die Unterschrift unter den Vertrag die Anerkenntnis der Schulden. Viele waren überrascht, daß die Schulden so hoch waren, daß trotz der Übernahme eines Teils der Summe durch die Regierung es ihnen unmöglich war, sie zu bezahlen.
Jetzt wird denen, die den TVM akzeptiert haben und die Rechnungen nicht bezahlen können, der Strom endgültig abgestellt. Das Programm hat nicht die erwünschten Ergebnisse gebracht, da die meisten Personen „im Widerstand“ es ablehnen und weiterhin nicht bezahlen.
Verschiedene Widerstandsformen gegen ungerechte Tarife
In der Nördlichen Zone finden wir verschiedene Widerstandsformen. Die zapatistischen Gemeinden auf der einen Seite verweigern seit 1994 die Stromzahlungen als Teil ihrer Widerstandsbewegung gegen alle Steuern und Abgaben der Regierung. Dies ist ein weiteres Druckmittel, um von der Regierung die Umsetzung der Friedensverträge (die von der Regierung und der EZLN am 16. Februar 1996 unterzeichnet wurden) zu fordern. Sie fordern den Strom als kollektives Eigentum der Nation und verlangen deshalb seine öffentliche Verteilung. Die Räte der Guten Regierung übernehmen die Unterhaltung der Transformatoren und ersetzen so die fehlenden Leistungen der CFE in ihren Gebieten.
Auf der anderen Seite befindet sich die „Bewegung des zivilen Widerstands“, die speziell für die Organisierung des Widerstandes gegen die Strompreise gegründet wurde. Im Bezirk Tila gehört die Mehrheit der Zivilgesellschaft an, die sich während des Konflikts gegen die Regierung organisierte und deshalb vor der Gewalt durch „Paz y Justicia“ fliehen mußte. Ihr Widerstand begann, als sie in ihre Häuser zurückkamen und, nachdem sie ihr Leben gerettet hatten, den angehäuften Rechnungen aus der Zeit ihrer Vertreibung gegenüberstanden. Die Unmöglichkeit, diese Rechnungen zu bezahlen, und die Empörung, bei der CFE in Schulden zu stehen, nachdem sie gewaltsam aus ihrem Gebiet vertrieben worden waren, motivierte ihren Ungehorsam gegenüber der CFE und später ihren Anschluß an die zivile Widerstandsbewegung. Sie bezahlen nicht, solange es keine gerechten Tarife gibt. Diese Bewegung gehört der Allianz des Zivilen Widerstands des Bundesstaates Chiapas an, die im April dieses Jahres mit dem Ziel, für einen gerechten Tarif, der „mit den ökonomischen Bedingungen der Bevölkerung übereinstimmt“, gegründet wurde. Sie halten den TVM für einen Betrug, um die Zahlung der Schulden zu erreichen, da er keinen wirklich gerechten Tarif darstellt.
Einige PRI-Anhänger, die traditionell der Regierung nahestehen und ökonomische Projekte oder Hilfen annehmen, haben angesichts der Unmöglichkeit, die Rechnungen zu begleichen, ebenfalls aufgehört, den Strom zu bezahlen (auch wenn sie den TVM akzeptiert haben). Diese organisieren oder artikulieren sich jedoch nicht gemeinsam mit den anderen Widerstandsbewegungen.
Es gibt Ausnahmen wie den Autonomen Bezirk San Juan de La Libertad, wo die verschiedenen politischen Gruppen (zapatistische Basisgemeinden, Anhänger der PRD, der PRI oder der Arbeitspartei PT) sich organisiert haben, um den Transformator zu reparieren und die Stromlieferung für alle aufrechtzuerhalten.
Warum muß man für eine so grundlegende natürliche Ressource so viel bezahlen? die Privatisierung
Der Strom ist teil der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die nötig sind, um ein würdiges Leben zu führen. Die elektrische Energie wurde seit der Epoche des Präsidenten Lázaro Cárdenas als öffentliche Dienstleistung angesehen. Dieser begann die Verstaatlichung der Elektroindustrie, die bis 1960 dauerte. Die CFE wurde Ende der 40er Jahre als ein dezentrales Organ ins Leben gerufen, das mit der Lieferung des Stroms an die Mexikaner beauftragt war, wodurch private Unternehmen aus diesem Sektor ausgeschlossen waren. Sie wurde als Eigentum des mexikanischen Volkes betrachtet und sollte der Wohlfahrt dienen. Die nationale Energiepolitik wurde ab 1992 mit der Reform des Verfassungsartikels 27, die den privaten Investitionen im Land die Tür öffnete, neu formuliert.
Laut CIEPAC (Zentrum für wirtschaftliche, politische Forschung und Gemeindeaktion) werden 45-65% der hydroelektrischen Energie Mexikos in Chiapas erzeugt. Die Widersprüche springen ins Auge, wenn man beachtet, daß der größte Teil der Energieproduktion von Chiapas nach Mexiko-Stadt und das urbane Umland geliefert wird, während gemäß dem Rat der Guten Regierung von La Realidad 90% der Gemeinden der Region Selva keinen Strom haben.
Trotz dieser sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten reagiert die mexikanische Politik nicht auf die lokalen Bedürfnisse, sondern auf die Interessen, die durch die Forderungen der industrialisiertesten Länder nach „Entwicklung“ und Konsum gekennzeichnet sind. Der hohe Energieverbrauch der USA und der Mangel an eigenen Energiequellen erklären deren Interesse an Freihandelszonen auf dem amerikanischen Kontinent, innerhalb derer sie regionale Energiemärkte aufbauen wollen, die ihren Bedarf in den kommenden Jahrzehnten decken können.
Laut CIEPAC kann man den Widerstand gegen die Stromzahlungen als eines der Hindernisse auf dem Weg zur Umsetzung des Plan Puebla Panamá in der Region ansehen, der die Schaffung eines regionalen Strommarktes durch die Einführung des System der Elektrischen Integration für Mittelamerika (SIEPAC) beinhaltet. So wird für 2007 mit einer Starkstromleitung gerechnet, die die Stromsysteme von Panama bis Mexiko und von Mexiko in die USA verbindet. Laut Interamerikanischer Entwicklungsbank ist das Ziel, eine „zentralamerikanische Verbindung zu schaffen, die die Beteiligung des privaten Sektors anzieht, um den regionalen Elektrizitätsmarkt zu entwickeln„, und damit „die ökonomische Effizienz des kompletten Versorgungssystems“ zu verbessern. (La Jornada, „Los frentes del PPP“, 18.10.2004)
Die Nationale Energiepolitik-Entwicklungsgruppe der USA gab einen Bericht heraus, in dem es heißt: “ Die steigende Energieproduktion und -kooperation der USA, Kanadas und Mexikos würde die Sicherstellung der Energiezufuhr steigern und durch unsere wirtschaftlichen Verbindungen innerhalb der NAFTA-Ökonomie die ökonomische Sicherheit jedes dieser Länder fundamental verbessern.“ Darüber hinaus versicherte sie, daß die Verfassungsreform von 1992 den privaten Firmen erlaube, Strom für ihren eigenen Verbrauch herzustellen und den Überschuß an die CFE zu verkaufen.
In diesem regionalen Kontext der „freien“ Märkte erließ das Wirtschaftsministerium der mexikanischen Regierung ein Dekret, in dem die Tarife verändert und ein Teil der Subventionen gestrichen wurden (veröffentlicht im Diario Oficial am 7.2.2002). Laut Regierungsangaben sollte diese Maßnahme helfen, einerseits die Subventionen bei den Niedrigstverbrauchern zu konzentrieren, andererseits mehr Geld für die Qualitätsverbesserung der Stromlieferung bereitzustellen. Beide Ziele wurden verfehlt, weil die Geringverbraucher am meisten unter der Tarifumstellung leiden und laut Aussagen der Gemeinden die CFE weiterhin die Unterhaltung und angemessene Behandlung der Versorgungseinrichtungen vernachlässigt. Einige Monate später, im August 2002, brachte die mexikanische Regierung einen Reformentwurf des Artikels 27 ein, der Privatpersonen die Möglichkeit eröffnete, Energie zu erzeugen, was bisher dem Staat vorbehalten war, sodaß nur noch die Verteilung der Energie staatliches Monopol blieb.
Der Oberste Gerichtshof hob das oben genannte Dekret im April 2003 vorübergehend auf. Diese Entscheidung öffnete die Tür für das Einlegen von Rechtsmitteln, diese scheiterten jedoch am betrügerischen Verhalten des beauftragten Anwalts.
Ziviler Ungehorsam: eine Form des Widerstands
Wir konnten feststellen, daß der TVM in Zonen wie Tila, wo das soziale Netz bereits durch den Krieg zerstört ist, den Konflikt weiter verschärft. Die Regierungsstellen selbst haben direkten und indirekten Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, den TVM zu akzeptieren, indem sie betonen, daß er Vorteile biete und nützlich sei. Die Funktionäre der CFE haben die Bevölkerung mit Drohungen, andernfalls die Transformatoren nicht mehr zu unterhalten, zur Unterschrift gedrängt. In einigen Gemeinden hat der „Beauftragte“ (Gemeindeautorität) die Familien unter Druck gesetzt zu unterschreiben, in anderen wurde diese Unterschrift verlangt, um Projekte oder Hilfen von der Regierung zu bekommen.
Zu all diesem kommt die mangelnde Qualität der Stromlieferungen hinzu: Stromausfälle in den Gemeinden sind alltäglich, die Stromspannung schwankt und schädigt damit die elektrischen Geräte. Der Stromverbrauch wird nicht direkt in den Gemeinden gemessen, was das Unverständnis der Verbraucher erklärt, wenn sie die unterschiedlichen Rechnungen der Nachbarn sehen, wo einige mit vielen elektrischen Geräten eine niedrigere Rechnung haben oder noch mehr, wenn andere gar keine Rechnung bekommen.
Der organisierte Widerstand versucht sich vor den Repressionen zu schützen, aber am angreifbarsten sind diejenigen, die keine Organisationsstruktur wie die EZLN oder die zivile Widerstandsbewegung hinter sich haben und endgültige Sperrungen des Stroms erleiden, wie es in einigen Vierteln des Bezirks Yajalón geschehen ist. Die Anführer des zivilen Widerstands haben gezielte Stromsperren erlebt, aber dank ihrer Organisation haben sie Druck aufgebaut, um wieder an den Strom angeschlossen zu werden.
Der organisierte Ungehorsam ist eine Strategie des Überlebens der Gesellschaft gegenüber ungerechten Gesetzen oder Entscheidungen, in diesem Fall gegenüber einer Tarifpolitik und besonders gegen eine Politik der öffentlichen Dienstleistungen, die die soziale Funktion derselben vergessen hat. Dieser Weg erscheint als einzige Option, wenn alle anderen Wege verschlossen sind, unter anderem der juristische, der langsam und teuer ist und der mit einem Mangel an Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen einhergeht.
Die Widerstandsbewegung sieht die Privatisierung des Energiesektors als Hauptgrund für die gestiegenen Strompreise: „die Regierung versucht den ausländischen Investoren zu zeigen, daß die CFE ein lohnendes Geschäft ist, das hohe Tarife kassiert“ (Dokument der chiapanekischen Regionalen Koordinationen der Zivilgesellschaft im Widerstand). Die andere vorherrschende Erklärung ist, daß die allgemeine Zahlungsverweigerung ein perfekter Vorwand für die Insolvenz und damit die Notwendigkeit, Privatkapital einzuführen, wäre.
In diesem Zusammenhang verstärkt der TVM nicht nur die Konflikte, sondern bleibt auch auf halbem Weg stehen. er greift nicht in die Energiepolitik ein, die auf internationalem Parkett entschieden wird, weit entfernt von der Realität der Gemeinden, und die Stimmen der Zivilgesellschaft wurden in den Verhandlungen zum TVM nicht gehört.
Diese Widerstandsformen sind Teil der Opposition der Zivilgesellschaft gegen die Privatisierung der Elektroenergie. Sie zeigen die Gründe, warum der zapatistische Aufstand mit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens NAFTA zusammenfiel, und die Bedeutung ihres Kampfes innerhalb der globalen Bewegung gegen die Vermarktung der grundlegenden Ressourcen wie Strom, Erdöl, Wasser und Biodiversität. Diese Erfahrungen sind wichtige Schritte in der Wiedererlangung der Autonomie, auf dem Wege des Aufbaus eines Lebenstraumes, in welchem die Völker über die Politik entscheiden, welche ihr Leben bestimmt.