2004
31/12/2004ANALYSE : Der bewaffnete Konflikt geht weiter, andere Konflikte ervielfachen sich
31/03/2005Elf Jahre nach dem bewaffneten Aufstand der Zapatistas muss konstatiert werden, dass außerhalb von Chiapas viele annehmen, der Konflikt in diesem Bundesstaat habe sich gelöst oder aufgelöst, sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene. Doch die Ursachen des Konfliktes bestehen fort. Die jetzige Situation stellt einen Zermürbungskrieg dar, in dem es keine direkte Konfrontation sondern militärische, politische und ökonomische Strategien gibt, mit denen versucht wird, die Zapatistas in die Enge zu treiben. Außerdem wird damit fortgefahren, Konflikte auf Gemeindeebene zu schaffen.
Das Jahr begann mit dem zehnten Jahrestag des zapatistischen Aufstandes. Die Feierlichkeiten gaben Anlass zu verschiedenen Analysen über den Weg der Zapatistas während des letzten Jahrzehnts. In diesem Sinne wurden die Bedeutung der Neo-Zapatistas bei der Niederlage der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) nach 71 Jahren an der Macht und bei der Stärkung der indigenen Bewegung auf nationaler Ebene hervorgehoben. Auch wurde die Bedeutung des zapatistischen Kampfes für die Entstehung der Antiglobalisierungsbewegung, gegen den Neoliberalismus und bei der Schaffung neuer Alternativen betont.
In der Konfliktzone haben die zapatistischen Räte der Guten Regierung als autonome Regierungen gearbeitet und damit ein neues Glied auf regionaler Ebene geschaffen. Außerdem ist ihre Rolle bei der Vermittlung und Lösung von Gemeindekonflikten hervorzuheben, nicht nur für ZapatistInnen sondern auch für nicht- ZapatistInnen. Das Konfliktpotential innerhalb und zwischen Gemeinden verringerte sich deutlich, auch wenn die Spannungen bleiben – besonders wegen der ständigen Präsenz von Militär in dieser Zone. Das Zentrum für Politische, Soziale und Ökonomische Analysen (CAPISE) veröffentlichte seinen Bericht: „La ocupación militar en Chiapas: el dilema del prisionero“, in dem 91 Miltiäranlagen aufgezeigt werden. Außerdem werden darin die Auswirkungen der militärischen Präsenz in Bezug auf die Kollektivrechte der Indígenas analysiert.
Ein Grossteil der Gemeindekonflikte findet weiterhin um öffentliche Dienstleistungen wie Wasser, Elektrizität und Bauarbeiten statt sowie um die Entscheidung der Zapatistas, ihre eigene autonome Organisation parallel zur staatlichen Regierung aufrecht zu erhalten. Im Verlauf des gesamten Jahres ist durch den Widerstand gegen die Bezahlung des elektrischen Lichts eine der grössten nicht-zapatistischen Bewegungen zivilen Ungehorsams entstanden, trotz des Programms „Tarif für ein besseres Leben“, durch das die staatliche Regierung versucht hat, den Widerstand zu beenden. Dem zum Trotz stieg die Anzahl der Konflikte zwischen der Bevölkerung und der föderalen Elektrizitätskommission, die immer wieder das Licht abstellte und weiterhin die Tarife anhob.
Im April wurden die Zapatistas im Bezirk Zinacantán (Region Los Altos) Opfer der schwersten gewalttätigen Aggression seit 1994. Mitglieder der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) stellten den Zapatistas der Gemeinde Jechvó als Repressalie das Wasser ab, weil diese sich nicht an der ökonomischen Kooperation beteiligten, die im Zusammenhang mit traditionellen Posten steht, die von den ‚autonomen Zapatistas´ nicht mehr übernommen werden. Das Ergebnis der Gewalt waren dutzende Verwundete und 125 vertriebene Familien, die nach einigen Wochen zwar in ihre Häuser zurückkehrten, jedoch blieb die Trennung zwischen beiden Gruppen aufrecht erhalten.
Das Biosphärenreservat Montes Azules blieb ein konstanter Brennpunkt und eine Konfliktquelle. Die Regierung behielt ihre Politik bei, mit Argumenten des Naturschutzes ihren Plan zur Vertreibung von Gemeinden, deren Ansiedlung als „irregulär“ eingestuft wird, durchzuführen. Es handelt sich dabei mehrheitlich um EZLN-Gemeinden und Gemeinden der ARIC, des „Bäuerlichen Zusammenschlusses der unabhängigen kollektiven Interessen„.
Nichtregierungsorganisationen wie „Maderas del Pueblo del Sureste“ und das Menschenrechtszentrum „Fray Bartolome de las Casas“ forderten immer wieder eine vollständige Analyse der Umweltproblematik des Reservats, ohne dabei die sozioökonomischen Faktoren zu vergessen, welche die Menschen dazu trieben, die Gegend zu besiedeln.
Im Oktober kündigte die EZLN die „Zusammenlegung“ verschiedener Gemeinden in Montes Azules an. Dies stellt eine Neuorganisierung der zapatistischen Unterstützungsbasen dar, die vorgenommen wurde aufgrund der Verstreuung der betroffenen Gemeinden und ihrer Entfernung zu einem Caracol, von deren Organisation und Verteidiguing sie profitieren.
Das Projekt „Soziale und nachhaltige Entwicklung in der Selva Lacandona“ (PRODESIS) wurde begonnen, welches von der chiapanekischen Regierung (mit 16 Mio. Euro) und der EU (mit 15 Mio. Euro) finanziert wird. Dieses richtet sich an die Mikroregionen, die an Montes Azules angrenzen. Es wird als Instrument präsentiert, um Armut durch Empowerment regionaler Akteure sowie durch die Planung und Durchführung von Entwicklungsprojekten zu bekämpfen. PRODESIS wurde scharf von NGO´s kritisiert, weil es ein Entwicklungsmodell von oben darstellt, das ohne die Beteiligung der Betroffenen ausgeführt wird.
In Chiapas gab es schwere Rückschritte im Bereich der individuellen Sicherheit und der Gewährleistung der Menschenrechte. Im Februar wurde das sogenannte „Mordaza-Gesetz“ verabschiedet, das stark die strafrechtlichen Sanktionen bei Delikten gegen die Ehre verschärft und dabei die Meinungs- und Informationsfreiheit einschränkt. Dazu kommen weitere legislative Reformen, die auf eine größere soziale Kontrolle abzielen, die eine Einschränkung der Partizipationsräume, der Protestformen und der Möglichkeiten zur Anzeige bewirken, wie etwa das Gesetz gegen Bandenbildung, das Bioterrorismusgesetz, das Steuergesetz usw. Auf der anderen Seite wurde der Präsident der staatlichen Menschenrechtskommission, Pedro Raúl López Hernández, seines Amtes enthoben, wodurch die Unabhängigkeit dieses Organs gefährdet wird, welches mit der Überprüfung der Achtung der Menschenrechte beauftragt ist.
Amnesty International (ai) bestätigte in seinem Bericht von 2004, dass die Bemühungen der bundesstaatlichen Regierung, die Erfüllung der Menschenrechte zu garantieren, ungenügend seien. Im Dezember veröffentlichte ai den Spezialbericht. Darin werden willkürliche Festnahmen und Folter von GegendemonstrantInnen während des Gipfels von Lateinamerika und der EU im Mai in Guadalajara angeprangert.
Im September präsentierte Präsident Fox dem Kongress unter starken Protesten der Opposition und der Mobilisierung verschiedener sozialer Sektoren auf der Strasse seinen jährlichen Regierungsbericht. Parallel dazu, anlässlich des ersten Jahrestages der Räte der Guten Regierung, gab die EZLN eine Reihe von Kommuniques mit dem Titel „Ein Video lesen“ heraus. Diese Berichte der autonomen Regierungen nahmen Stellung zu Kritiken und erkannten zwei wichtige Fehler an: die mangelnde Beteiligung von Frauen an den Räten und den Einfluss, den die politisch-militärische Struktur der Zapatistas nach wie vor auf die Organisation der autonomen zivilen Regierungen hat. Darüber hinaus wurden Fortschritte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Ernährung, Land, Wohnraum und den Formen von Selbstregierung verzeichnet.
Im Oktober fanden in Chiapas Bezirkswahlen statt. Die zapatistischen Räte der Guten Regierung hielten ihr Versprechen, die Arbeit der mit der Durchführung der Wahl beauftragten Organe zu respektieren. Mit dieser Entscheidung wird die Haltung der zapatistischen Bewegung bestätigt, nicht auf Konfrontation zu gehen.
Durch den Wahlprozess wurde die politische Landschaft neu gestaltet, die sich durch fehlende politische Inhalte der Parteien auszeichnet. Es finden ständige Wechsel derselben KandidatInnen von einer Partei zur anderen, und konfliktreiche Allianzen unterschiedlicher Parteien statt. Die Schwächung der Parteiendemokratie und das abnehmende Prestige der Autoritäten hat ebenfalls auf nationaler Ebene zugenommen. Die Agenda aller politischer Gruppen konzentriert sich bereits auf den Diskussionsprozess der kommenden Präsidentschaftswahlen (2006). Gegenüber den Parteienkämpfen im November setzten soziale Kräfte den ersten nationalen Dialog für ein Projekt der Nation mit Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie in Bewegung, welches darauf abzielt, Widerstände gegen das neoliberale Projekt zu bündeln.