AKTUELL : Ernsthafte Verschlechterung der Menschenrechtssituation in Chiapas und Mexiko
30/11/20092009
29/01/2010Im Jahr 2009 hat es Mexiko geschafft, mit der Gewalt im Zusammenhang mit organisierten Verbrechen und der Schweinegrippe (H1N1) die ersten Seiten der internationalen Presse zu füllen. Auf nationalem Niveau konnten die Medien mit diesen zwei Ereignisse jedoch nicht die Armutssituation und die vermehrten Beschwerden gegen die Militärpräsenz in den Straßen verschleiern.
Auf der anderen Seite kann es als bezeichnend verstanden werden, dass viele Mexikaner an der Existenz des Schweinegrippe-Virus zu zweifeln begannen, was zu einem Großteil einer fehlenden Glaubwürdigkeit der Institutionen geschuldet ist. Diese Kluft mangelnder Glaubwürdigkeit reflektierte sich auf vielen Ebenen, eine davon ist die der Wahlen: Am 5. Juli fanden Wahlen für die mehr als 1.500 Ämter im ganzen Land statt. Die Enthaltungen erreichten 55,19% und die ungültigen Wahlzettel 5,40%. Im Vorfeld der Wahlen war eine signifikante Bewegung für eine ungültige Stimmabgabe entstanden. Auch wenn die Wahlbeteiligung niedrig war, wurde fast 12 Jahre nach dem Verlust der Kontrolle über die Abgeordnetenkammer die Partei der Institutionellen Revolution (PRI, welche sich noch bis zum Jahr 2000 mehr als 70 Jahre an der Macht gehalten hatte) zum großen Gewinner des Tages. Bei 500 Sitzen haben sie nun eine Präsenz von 235 Abgeordneten.
Erneut fand Chiapas in den nationalen und internationalen Medien wenig Interesse. Im Juli fand das erste Amerikanische Treffen gegen Straflosigkeit im zapatistischen Caracol Morelia statt. Die Straflosigkeit wurde wiederholt als Tat der Vergangenheit und Gegenwart in Lateinamerika erklärt.
In Chiapas hatte der meist bekannte und in jedem Fall paradigmatische Fall mit der Freilassung von 35 Indigenen (verurteilt wegen des Massakers an 45 Indigenen in der Gemeinde Acteal im Landkreis Chenalhó 1997) durch den Obersten Gerichtshof des Landes (SCJN) zu tun. Der Oberste Gerichtshof traf seine Entscheidung mit dem Argument, dass die Verurteilungen auf der Basis von illegal erlangten Beweisen stattfanden und durch erfundene Zeugenaussagen von Seiten der Generalstaatsanwaltschaft der Republik (PGR). Es ist zu unterstreichen, dass der Oberste Gerichtshof nicht entschieden hatte, dass die Freigelassenen unschuldig seien. Deswegen wurde die Entscheidung infrage gestellt, weil sie den Kontext, in dem sich das Massaker von Acteal ereignete, und den andauernden Krieg in Chiapas aussen vorgelassen hatte.
Im August kamen offizielle US-amerikanische Dokumente ans Licht, welche vom Nationalen Sicherheitsarchiv veröffentlicht worden waren und die direkte Unterstützung der Paramilitärs durch die mexikanische Armee im Kontext der Aufstandsbekämpfung gegen die zapatistischen Basen in den 1990er Jahren aufzeigen. Ende Oktober informierte die Generalstaatsanwaltschaft von Chiapas darüber, dass sie Informationen darüber habe, dass Angestellte des öffentlichen Dienstes im Falle Acteal nicht bzw. verschleppend reagiert hätten.
Eine andere, nicht weniger beunruhigende Dimension der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ist die Wirkung der Nachricht in Chenalhó und anderen Regionen in Chiapas, wo sie wie eine erneute Nachricht der Straflosigkeit gelesen wird und die Möglichkeit eröffnet, dass sich paramilitärische Aktionen wiederholen könnten. Die Regierung von Chiapas hat einen gewissen politischen Realismus bewiesen und der Rückkehr der Freigelassenen nach Chenalhó vorgebeugt, indem sie ihnen Land, Wohnung und Arbeit angeboten hat, um Konfrontationen zu vermeiden.
Im Übrigen, auch wenn in den Medien die Fortdauer des ungelösten bewaffneten Konflikt kaum präsent ist, wurde im laufenden Jahr von häufigeren Hausdurchsuchungen und Militäreinsätzen berichtet, die Zapatisten und Nicht-Zapatisten im Zentrum (Umgebung von Venustiano Carranza), im Urwald des Grenzgebietes zu Guatemala und im Hochland betraf.
Auf der anderen Seite werden weiterhin Einschüchterungen von zapatistischen Gemeinden angezeigt, welche sich hauptsächlich in Aggressionen von Gruppen von Indigenen und Bauern äußern, die eine Verbindung zu lokalen Machthabern oder zur Bundesstaatsregierung haben. Diese Gruppen versuchen, den Widerstand durch mehr oder weniger schlimme Angriffe abzunutzen, welche in Gewalt enden können oder nicht (z.B. Besetzung von „zurückgewonnenem Land“, Diebstähle oder Vernichtung der Ernte etc.). Die Initialien der beteiligten Organisationen ändern sich, doch die Strategie, indigene Gruppen miteinander zu konfrontieren, zieht sich durch den ganzen Prozess.
Generell gesehen drehten sich die meisten sozialen Konflikte im Jahr 2009 um Land: der Widerstand gegen den Ausbau der Minenprojekte in acht Gemeinden oder den Bau der Autobahn zwischen San Cristóbal de las Casas und Palenque (z.B. Mitzitón), der Kampf um autonome Verwaltung der Wasserfälle von Agua Azul (Fall Bachajón), der Kampf gegen die hohen Strompreise etc. Es ist zu unterstreichen, dass mehrere dieser organisatorische Prozesse der Anderen Kampagne angehören, welche Ende 2005 von den Zapatisten einberufen wurde.
Als eines der am meisten beunruhigenden Details konnte eine wachsende Kriminalisierung des sozialen Kampfes beobachten werden, welche unabhängige Organisationen, Menschenrechtsverteidiger sowie die lokale katholische Kirche einschliesst und einen Parallelismus zum Staat der 1990er Jahre zeigt.
Im November hat die Zeitung „La Jornada“ Fragmente des Berichts „Vorherrschende Situation im Landkreis Venustiano Carranza“ veröffentlicht, der von der Generalstaatsanwaltschaft von Chiapas ausgearbeitet wurde. Dieser gibt vor, die Existenz eines „subversiven Netzes“ zu dokumentieren, welches Aktionen der Destabilisierung für 2010 planen würde und dessen Mittelpunkt der katholische Pfarrer von Venustiano Carranza, Jesús Landín, sei. Dieser Bericht scheint stark die vom Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas, der Diözese und anderen sozialen Akteuren öffentlich gemachten Einschüchterungen zu „rechtfertigen“, ebenso wie die polizeilichen und militärischen Aktionen in Venustiano Carranza und den umliegenden Gemeinden.
Angesichts der Gerüchte über mögliche soziale Konflikte in 2010 gab es einen scheinbaren Wechsel der Regierungsstrategie, welche sich darum bemüht, so weit wie möglich dem zuvorzukommen, was sich ereignen könnte. Ende November haben Abgeordnete des Kongresses in Chiapas versucht, die rechtliche Anerkennung der „Räte der guten Regierung“ zu erreichen, um welche die Zapatisten gebeten hätten. Einen Tag später stellte sich heraus, dass die Zapatisten nie um die Legalisierung gebeten hatten. Am 29. Dezember billigte der lokale Kongress das „Gesetz der indigenen Rechte im Staat Chiapas“ mit dem Ziel, die „Abkommen von San Andrés anzuerkennen“. Analysten und Organisationen stellen den diskursiven und medialen Charakter dieser Initiative in Frage, denn die Anerkennung der indigenen Rechte sei dahingehend beschränkt, „sofern sie nicht gegen die chiapanekische und mexikanische Verfassung verstoßen oder die Rechte Dritter beeinträchtigen“.
Zum ersten Mal seit 16 Jahren hat die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) nicht, oder zumindest nicht öffentlich, den Jahrestag des bewaffneten Aufstands vom 1. Januar 1994 gefeiert. An diesem Tag blieben die Caracoles geschlossen und erzeugten einiges an Spekulationen und Gerüchten über die Pläne der Zapatisten für das so symbolische Jahr 2010 (200 Jahre Unabhängigkeit und 100 Jahre mexikanische Revolution).