AKTUALITÄT : Fortschritt, Stagnation oder Verschlechterung?
30/12/2010ARTIKEL : JENSEITS VON CHIAPAS – Das Erbe von Don Samuel Ruiz García (1924-2011)
28/02/2011Wenn zunehmend von „Krieg in Mexiko“ sowohl im Ausland als auch innerhalb des Landes gesprochen wird, bezieht dies sich nicht mehr auf den ungelösten bewaffneten Konflikt in Chiapas. Vielmehr geht es um die blutigen Spuren der Gewalt, die seit der „Kriegserklärung“ Felipe Calderóns an die Drogenkartelle zu Beginn seiner Amtszeit das Land überziehen. Es wird von ca. dreißig tausend Toten in diesem Zeitraum gesprochen, zehntausend allein im Jahr 2010, wobei ein nicht unbeträchtlicher Teil davon ZivilistInnen sind.
Wenngleich das organisierte Verbrechen in Chiapas nicht so präsent ist wie im Norden des Landes, was sich auch medial widerspiegelt, so gab es doch einen breiten Unmut über die Politik der Regierung, welcher in den Medien regelmäßig ohne Echo blieb. Dies geschah bis zu dem Grad, dass von einer „Mediensperre“ gesprochen wurde. Die Regierung des Bundesstaates hingegen hat es geschafft, eine massive Präsenz in den lokalen und landesweiten Medien zu erreichen. Wenn dann kritischen Stimmen Raum gegeben wird, schien die Arbeit der JournalistInnen der Regierung ungemütlich zu werden, wie im Juli der Korrespondent der Zeitschrift Proceso, Isaín Mandujano, und die Reporterin der Tageszeitung La Jornada, Ángeles Mariscal, öffentlich machten. Sie beklagten, Opfer einer Diffamierungskampagne zu sein, in der Medien aktiv seien, die der Regierung nahe- oder unterstünden. Im November wurde der Journalist Héctor Bautista verhaftet, was als Angriff auf die Meinungsfreiheit und Teil einer Einschüchterungs- und Repressionskampagne der Regierung von Chiapas gewertet wurde.
Die eingeschränkte Berichterstattung über sozio-politische Konflikte in Chiapas schien dann auch einer Logik der Kriminalisierung und des In-die-Enge-Treibens der EZLN, der sozialer Proteste und der MenschenrechtsverteidigerInnen im Bundesstaat zu folgen. Es wurden u.a. Fakten und Versionen verdreht, religiöse Aspekte hinzugefügt, wo dies in Wirklichkeit keine Rolle spielte, oder andere Interessen verschleiert. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel, der im März in der Tageszeitung Reforma erschien. In diesem „deckte“ ein vermeintliches Ex-Mitglied der EZLN eine angebliche Verbindung zwischen der EZLN und der baskischen ETA „auf„.
Trotz der Gerüchte und Erwartungen aufgrund der Symbolik des Jahres (200 Jahre Unabhängigkeit, 100 Jahre Revolution; Anm. der Übersetz.) und trotz der medialen Angriffe in diesem Sinne war 2010 ein Jahr, in dem die zapatistische Kommandantur schwieg und keine öffentlichen Veranstaltungen auf zapatistischem Gebiet an wichtigen Tagen für die Bewegung stattfanden. Die verschiedenen Räte der Guten Regierung wiederum machten weiterhin problematische Fälle bekannt, die Mehrheit davon aufgrund von territorialen Streitigkeiten. Dabei konnte ein härterer Ton festgestellt werden (im dem Sinne der Verteidigung ihrer Ländereien, „koste es, was es wolle“). Zudem waren die Konsequenzen schwerwiegender, es gab auch Tote, wie z.B. im Fall Bolom Ajaw (Landkreis Tumbalá) im Februar oder in El Pozo (Landkreis San Juan Cancuc) im Juni. Am 9. September flohen 170 ZapatistInnen aus der Gemeinde San Marcos Avilés im Landkreis Chilón, weil sie von Mitgliedern anderer Gruppen bedroht und angegriffen worden waren, die sich gegen den Bau einer autonomen Schule in der Gemeinde ausgesprochen hatten. Sie kehrten am 12. Oktober zurück, obwohl die Situation angespannt blieb. Das ganze Jahr über prangerten AnhängerInnen der Anderen Kampagne Drohungen, Provokationen und Angriffe an (wie z.B. in Mitzitón und San Sebastián Bachajón).
Zwar war die Regierung von Chiapas weiterhin bemüht, sich als den Millenniumszielen der Vereinten Nationen verpflichtet darzustellen. Insgesamt jedoch gab es weiterhin Konflikte in den Gemeinden, deren Ursprung meist Regierungsprogramme wirtschaftlicher Natur waren oder die Spaltungen, die aufgrund der politischen Differenzen zwischen Gruppen im Widerstand und den Teilen der Gemeinden, die in die staatlichen Strukturen eingebunden sind bzw. aufgrund der Landratswahlen, die im Juli stattfanden.
Eine weitere, anhaltende Sorge betraf die zunehmende Kriminalisierung der MenschenrechtsverteidigerInnen. Dies geschah u.a. durch Überwachung, Schikanen, Drohungen und Hausdurchsuchungen. Ein Beispiel dafür war die Entführung von Margarita Martínez durch Unbekannte am 25. Februar in San Cristóbal de Las Casas. Sie wurde geschlagen und bedroht, mit der Aufforderung, die vor Monaten gestellte Anzeige gegen chiapanekische Funktionäre zurückzunehmen. Dies geschah weniger als 35 Stunden vor der Rekonstruktion des Vorfalls der Hausdurchsuchung bei Margarita Martínez in Comitán de Domínguez im Jahr 2009. Bei einem erneuten Übergriff am 24. November wurde sie von zwei Unbekannten abgefangen, die sie mit dem Tod bedrohten und aufforderten, den MitarbeiterInnen des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas (CDHFBC) Drohungen zu überbringen.
Was diese Tendenz angeht, muss hervorgehoben werden, dass die Übergriffe mehr und mehr vermittelnden Akteuren galten, die zu verschiedenen Zeitpunkten des Konflikts als „Puffer“ hergehalten haben. So z.B. der Kirche, wie der Fall des Pfarrers von Chicomuselo illustriert, der Todesdrohungen erhalten hatte, weil er Gemeinden beisteht, die sich dem Bergbau in der Region widersetzen. Oder Nichtregierungsorganisationen (NRO), wie im Fall des Direktors des Menschenrechtszentrums Digna Ochoa in Tonalá, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen „Anschlags auf die Kommunikationsstrukturen“ läuft, weil er als Menschenrechtsbeobachter einer Demonstration des Regionalen Autonomen Rats der Küstenregion im April diesen Jahres beiwohnte.
Zudem wurde Mexiko deutlich aufgrund der Menschenrechtslage kritisiert, was sich nicht mehr nur auf NRO beschränkte, sondern auch andere Länder oder multilaterale Instanzen wie die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Vereinten Nationen, die USA oder das Europäischen Parlament einschloss. Die Vertretung des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Mexiko stellte im November eine aktualisierte Version ihres Berichts über die Situation der MenschenrechtsverteidigerInnen in Mexiko vor. In diesem wird dargelegt, dass die Bundesstaaten Chihuahua, Chiapas, Oaxaca und Guerrero die Liste anführen, was Übergriffe auf jene angeht. Insgesamt konnte zudem eine deutliche Verschlechterung festgestellt werden, wobei der emblematischste Vorfall des Jahres 2010 sich am 27. April in Oaxaca ereignete, als eine Menschenrechtsbeobachtungskarawane in der Gemeinde La Sabana angegriffen wurde. Bei dem Übergriff starben Beatriz Alberta Cariño Trujillo, Direktorin des Centro de Apoyo Comunitario Trabajando Unidos (CACTUS), und der finnische Menschenrechtsbeobachter Jyri Jaakkola.
Andererseits endete Ende Juni, nach vier Jahren, eine lange Phase politischen Kampfes und Lobbyarbeit der Mitglieder der Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra (FPDT) von San Salvador Atenco, denn es kamen zwölf ihrer Mitglieder, die infolge einer Konfrontation mit verschiedenen Polizeieinheiten im Mai 2006 inhaftiert waren, frei.