SIPAZ: 20 Jahre an der Seite von Lichtern der Hoffnung
02/06/2015AKTIVIÄTEN VON SIPAZ (Von Mitte Februar bis Mitte Mai 2015)
03/06/2015In der Nacht vom 31. Dezember 2014 zum 1. Januar 2015 hatten sich Kälte und Regenschauer über das Caracol II Oventik im Hochland von Chiapas gelegt. Als Abschluss des „Festivals der Widerstände und Rebellionen gegen den Kapitalismus“ sprach Subcomandante Insurgente Moisés vor den Angehörigen der 43 vermissten Studenten der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa in Guerrero die folgenden Worte:
„Das kritische Denken ist für den Kampf unerlässlich.
Theorie nennen sie das kritische Denken.
Nicht das Faulpelz-Denken, welches sich mit dem Bestehenden zufrieden gibt.
Nicht das dogmatische Denken, das zum Herrscher wird und uns befiehlt.
Nicht das betrügerische Denken, welches lügt.
Wohl das Denken, welches fragt, hinterfragt und zweifelt.
Selbst in den schwierigsten Situationen darf man das Prüfen und die Untersuchung der Realität nicht vernachlässigen.
Studium und Untersuchung sind auch Waffen für den Kampf.
Aber weder die Praxis allein, noch die Theorie allein.
Das Denken das nicht kämpft, verursacht nur Lärm, sonst nichts.
Der Kampf der nicht denkt, wiederholt seine Fehler und erhebt sich nicht, nachdem er gefallen ist.
Und Kampf und Denken verbinden sich in den Kriegerinnen und Kriegern, in der Rebellion und im Widerstand, welche heutzutage die Welt erschüttern, auch wenn Schweigen ihr Klang ist.“
Gerade zu dem Zweck, Kampf und Denken zu vereinen, lud die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) vom 3. bis zum 9. Mai Mitglieder des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI), Anhänger und Nicht-Anhänger der Sexta Declaración de la Selva Lacandona, Mexikaner und Ausländer zum Seminar „Kritisches Denken über die kapitalistische Hydra“ ein. Der Titel, bereits eine erste Charakterisierung des Kapitalismus, erinnert an das mehrköpfige Meeresmonster aus der griechischen Mythologie, dem für jeden abgeschnittenen Kopf zwei neue wachsen.
Am Tag vor Beginn der Veranstaltung fand im Caracol Oventik die Ehrung des im März 2014 ermordeten Philosophen, Luis Villoro Toranzo, und des im Mai 2014 im Caracol La Realidad ermordeten Unterstützer der Zapatisten, José Luis Solís López, Galeano, statt. In den Beiträgen wurde betont, dass es wichtig sei, die Kämpfe der Verstorbenen weiterzuführen, sich zu organisieren und Alternativen zum kapitalistischen System zu gestalten.
Das Seminar fand anschließend in den Räumlichkeiten des CIDECI-Unitierra, in San Cristóbal de Las Casas, Chiapas, statt und zählte mehr als 1.500 Teilnehmer aus verschiedenen Teilen von Chiapas und der ganzen Welt. Man nahm sich Urlaub von der Arbeit, verkaufte Essen auf der Straße, um die Anreise bezahlen zu können, fehlte in der Schule oder Uni, um sich vor Ort von den Dutzenden persönlich vorgetragenen oder schriftlich eingereichten Vorträgen anregen und herausfordern zu lassen. Inmitten dieser Vielfalt von Stimmen und Perspektiven wurden ganz unterschiedliche Themen behandelt, darunter die Wurzeln und Merkmale der heutigen kapitalistischen Hydra, die Wirtschaft in den Gemeinden, Agrarökologie und Genmanipulation auf indigenen und kleinbäuerlichen Feldern, Feminismus oder die Formen des Strebens nach Autonomie der Zapatisten. Die Beiträge kamen von Akademikern, Aktivisten, Kommandantinnen und Kommandanten sowie von Subcomandante Moisés und Subcomandante Galeano (ehemaliger Marcos), welche die Sessionen moderierten und mit ihren Reden abschlossen.
Die Vorträge stellten „Samenkörner“ dar, aus denen die Teilnehmer diejenigen für sich heraussuchen konnten, die ihnen in ihrem persönlichen Kontext dienen. Die Keime sollten nicht nur zum kritischen Denken anregen, sondern auch zum Kampf und Widerstand. Die gesamte Woche hindurch wurde eine harte Analyse der Realität und Gegenwart konstruiert. Die Zapatistinnen und Zapatisten beschrieben das kritische Denken als Versuch, den „Sturm“ zu verstehen, denn „so wie es einmal war, ist es nicht mehr“. Sie spornten die Zuhörer zu Taten an, indem sie mit den Worten von Subcomandante Moisés mahnten, es sei nun Zeit zu „traben“ statt bloß zu gehen. Es reiche nicht mehr, so Moisés, der Ungerechtigkeit mit Protestmärschen, Aktionen in den sozialen Medien, Demonstrationen usw. zu begegnen, denn so ließe sich die gegenwärtige Situation nicht Verändern. Daher betonten die Zapatistinnen und Zapatisten, wie wichtig es sei zu verstehen, inwiefern sich die kapitalistische Hydra verändert hat, und die Wurzeln des Sturms auszumachen.
Es wurde jedoch auch von der Hoffnung gesprochen, die im Zentrum des Sturms besteht. Um diese zu nähren, erklärten die Zapatistinnen und Zapatisten, sei es wichtig, dass sich die Zivilgesellschaft organisiere. Angesichts der anstehenden Wahlen äußerte Subcomandante Insurgente Moisés: „Ob du nun wählen gehst oder nicht, organisier dich. Wir Zapatistinnen und Zapatisten glauben, dass es, um sich zu organisieren, eine gute Reflexion braucht. Mit anderen Worten: Man braucht die Theorie, das kritische Denken“. In seiner Schlussrede fasste er zusammen: „Groß ist unsere Aufgabe, unsere Pflicht zu denken, Compañeras und Compañeros, also geht nun nach Hause mit vielem, was euch zu denken gibt, zu träumen gibt; geht und redet mit euren Compañeras und Compañeros daheim, denn in anderen Momenten und Formen werden wir andere Arten zu arbeiten suchen müssen“.