AKTUELL: Mexiko – „in Gefahr“, der öffentliche Raum in einer anhaltenden Menschenrechtkrise, die Konsequenzen mit sich bringt
15/06/2022ARTIKEL: Stell dir vor es ist Krieg
15/06/2022„#WirWerdenGetötet! Man tötet nicht die Wahrheit, indem man Journalist*innen tötet!“
M it der Ermordung der Journalistinnen Yesenia Mollinedo Falconi und Sheila Johana García Olvera am 9. Mai 2022 in Veracruz und dem Mord an Luis Enrique Ramírez Ramos, einem Journalisten und politischen Analysten, der nur vier Tage zuvor im Norden des Landes entführt und ermordet worden war, stieg die Zahl der im Jahr 2022 in Mexiko hingerichteten Journalisten auf elf.
Die Delegation der Europäischen Union (EU) und die Botschaften ihrer Mitgliedstaaten in Mexiko sowie die Botschaften von Norwegen und der Schweiz verurteilten die Morde. „Die Ereignisse von weniger als einer Woche spiegeln einmal mehr das sehr ernste Ausmaß an Gewalt und Einschüchterung wider, dem viele Journalist*innen in Mexiko ausgesetzt sind”, so die diplomatischen Vertreter*innen.
Human Rights Watch (HRW) erklärte, es seien dringend Maßnahmen erforderlich, um den föderalen Schutzmechanismus zu stärken, die Belästigung von Journalist*innen, die die Regierung kritisieren, zu stoppen und die „fast völlige“ Straffreiheit für diese Verbrechen zu beenden. Tyler Mattriace, Amerika-Forscher von HRW, sagte, dass „dieses Jahr auf dem besten Weg ist, das tödlichste in der Geschichte für Journalist*innen in Mexiko zu werden“ und dass „Präsident López Obrador nicht nur versäumt hat, gegen die Gewalt gegen die Presse vorzugehen, sondern auch weiterhin seine Morgenkonferenzen nutzt, um Journalisten zu schikanieren und einzuschüchtern”. Das „Theater“ um Recht und Ordnung, das durch die „Null Straflosigkeit“-Botschaften dargestellt wird, „garantiert nicht, dass es Gerechtigkeit für die Morde geben wird“, so die Organisation.
Mexiko, eines der tödlichsten Länder der Welt
Mehrere Quellen betonen: Mexiko ist für Journalist*en eines der gefährlichsten Länder der Welt. Im Weltindex für Pressefreiheit (2021) liegt das Land wie im Vorjahr auf Platz 143 von 180. Es hat sich in den letzten Jahren sichtlich verbessert, denn 2013 lag es auf Platz 153.Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (RSF) stieg der Wert für Mexiko jedoch auf 46,71 im Jahr 2021 (45,45 im Jahr 2020), was auf eine Verschlechterung der Situation in Bezug auf die freie Meinungsäußerung aufgrund einer Zunahme von Angriffen und eines feindlicheren Umfelds für Journalist*innen hindeutet.
In der Beschreibung der Situation im Land, die auf der Website der Organisation veröffentlicht wurde, wird gewarnt: „Mexiko, das Land der Drogenkartelle, ist nach wie vor eines der tödlichsten Länder der Welt für die Medien. Journalist*innen (…) sind Einschüchterungen und Aggressionen ausgesetzt und können kaltblütig getötet werden. Viele Journalist*innen sind in dem Land verschwunden, viele andere wurden aus Sicherheitsgründen ins Exil gezwungen.”
Berichterstattung über Korruption und politische Fragen, die gefährlichsten Themen
Laut dem Bericht „Leugnung“ von Artikel 19 für das Jahr 2021 waren Korruption und Politik mit 285 Fällen (44,25 % der Gesamtzahl) die Hauptgründe für Angriffe auf Journalist*innen. 155 Fälle (24 % der Gesamtzahl) betrafen die Berichterstattung über Sicherheits- und Justizthemen, die in Mexiko umgangssprachlich als „nota roja” bezeichnet wird, und damit den zweiten Platz darstellt. An dritter, vierter und fünfter Stelle steht die Berichterstattung über Menschenrechte, Proteste, soziale Bewegungen und die Verteidigung von Land und Territorium.
„Was in Mexiko geschieht, ist erschreckend. Es ist wieder einmal das Land mit den meisten Todesopfern in einem Jahr, obwohl es theoretisch ein friedliches Land ist”, erklärte Christophe Deloire, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, anlässlich der Veröffentlichung des Jahresberichts 2021. „Journalist*innen, die über den Drogenhandel, die Unterwelt einer korrupten politischen Klasse, recherchieren, werden häufiger als in anderen Ländern getötet. Das ist unheimlich”, fügte er hinzu.
Laut Artikel 19 erhöht die Berichterstattung über Sicherheitsfragen das Risiko, Opfer der organisierten Kriminalität (33 von 42 Angriffen wurden von diesen Gruppen verübt) und ziviler Sicherheitskräfte (52 von 110) zu werden. In diesem Sinne sind Journalist*innen, die über diese Themen berichten, häufiger von Morddrohungen (15 von 36 Fällen), willkürlicher Festnahme und Freiheitsberaubung (13 von 33 Fällen) betroffen und werden eher getötet, so berichteten vier der sieben im Jahr 2021 getöteten Journalist*innen über Sicherheits- und Justizthemen. Angesichts der Angriffe und Auswirkungen ist es nicht verwunderlich, dass Journalist*innen, die über Sicherheits- und Justizthemen berichten, aus Angst vor Angriffen zur Selbstzensur greifen, um größere Risiken zu vermeiden.
Straflosigkeit und zunehmende Gewalt
Trotz einiger Fortschritte in jüngster Zeit besteht in Mexiko nach wie vor ein ernstes Problem der Straflosigkeit. RSF ist der Ansicht, dass die Absprachen von Behörden und Politiker*innen mit dem organisierten Verbrechen und nationalen und transnationalen Unternehmen die Sicherheit der Medienschaffenden ernsthaft gefährden und das Funktionieren des Justizsystems des Landes auf allen Ebenen behindern. Wenn Journalist*innen über Themen recherchieren, die für die Regierung problematisch sind oder im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen stehen – vor allem auf lokaler Ebene -, können sie bedroht und eingeschüchtert oder sogar getötet werden, sagt die Organisation.
Die Machtübernahme von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der seit Dezember 2018 an der Macht ist, scheint weder die Spirale der Gewalt gegen Journalist*innen noch die Straflosigkeit eindämmen zu können, wobei die Straflosigkeit (die je nach Quelle zwischen 91 und 98 % liegt) ein Faktor ist, der diese Spirale geradezu nährt.
Artikel 19 dokumentiert, dass im Jahr 2021 in Mexiko alle 14 Stunden ein Angriff auf die Presse registriert wurde, mit einer Gesamtzahl von 644 Angriffen im gesamten Jahr. Im Jahr 2021 wurden in Mexiko sieben Journalist*innen ermordet. In den drei Jahren der Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador gab es insgesamt 1.945 Angriffe auf die Presse, darunter 30 Morde an Journalist*innen und zwei Fälle von Verschwindenlassen. Das sind „fast 85 % mehr Angriffe auf die Presse als in den ersten drei Jahren des vorherigen Präsidenten, und stellt damit die gewalttätigste Periode gegen die Presse seit Beginn der Aufzeichnungen dar„, heißt es im Bericht von Artikel 19 aus dem Jahr 2021.
Leugnung und Unsichtbarmachung
Im selben Bericht wird hervorgehoben, dass sich im Jahr 2021 „die Tendenz verfestigt hat, Problematiken im Zusammenhang mit den Menschenrechten zu leugnen und aus dem öffentlichen Diskurs auszublenden”. Der mexikanische Präsident hat die Morde an den Journalist*innen heruntergespielt und erklärt, dass sie nur einen unbedeutenden Prozentsatz der Morde ausmachten, die in Mexiko tagtäglich begangen werden, was zwar stimmt, aber kaum ein Trost ist.
Es ist wichtig zu betonen, dass im Jahr 2021 Beamt*innen die Hauptaggressor*innen gegen Journalist*innen und Medien waren, wie es seit 2009 der Fall ist, dem Jahr, in dem Artículo 19 begann, Angriffe gegen die Presse in Mexiko aufzuzeichnen. So war der mexikanische Staat an mindestens 274 der 644 Anschläge im Jahr 2021 beteiligt (42,55 %), und zwar durch Beamt*innen, zivile Sicherheitskräfte (Polizei, Wachpersonal usw.) und Streitkräfte (Nationalgarde, Armee, Marine usw.). Mit anderen Worten: Zwei von fünf Angriffen auf die Presse gehen direkt auf das Konto der mexikanischen Behörden.
Stigmatisierung und Kriminalisierung
Am 1. Februar 2022 forderte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (IACHR) die mexikanische Regierung auf, die Krise der Gewalt die der mexikanische Journalismus erlebt anzuerkennen. Sie forderte auch die Einstellung der Sendung „Wer ist Wer der Lügen”, die sie als „ein Programm, das den demokratischen Standards der Meinungsfreiheit völlig fremd ist“ bezeichnete, das „die soliden Botschaften, zur Unterstützung der journalistischen Arbeit und zur Ablehnung von Gewalt gegen Journalist*innen, die gehört werden sollten, verdeckt”. Der mexikanische Präsident bestritt einen Zusammenhang zwischen der Zunahme der Gewalt gegen Journalist*innen und den Äußerungen in seinen Reden, die er als „falsche Spekulation” bezeichnete. AMLO erklärte: „Es gibt nur sehr wenige Journalist*innen, die der noblen Aufgabe zu informieren nachkommen”. Artikel 19 dokumentiert weiter, dass im Jahr 2021 während der morgendlichen Konferenzen des Präsidenten „bei mindestens 71 Gelegenheiten, im Durchschnitt fast sechs Mal pro Monat, der Chef der föderalen Exekutive selbst oder andere Mitglieder der Regierung die Presse verunglimpften„. Derselben Quelle zufolge waren 40 Prozent der überprüfbaren Aussagen des Präsidenten nicht wahr: 34 Prozent vermischten wahre mit falschen Informationen und 17 Prozent waren völlig falsch. In diesem Sinne trägt AMLO zu einem großen Teil zu einem Kreislauf der Fehlinformation und Stigmatisierung bei, so der Bericht „Leugnung“.
Andererseits weist der Bericht darauf hin, dass es in Mexiko ein Informationsdefizit gibt, das zum einen auf die fehlende Internetabdeckung, insbesondere in ländlichen Regionen, und zum anderen auf die Medienmonopole zurückzuführen ist, da 33 % der gesamten offiziellen Werbeausgaben in nur drei Medien (La Jornada, Televisa und TV Azteca) investiert werden, was die Vielfalt der Möglichkeiten und Meinungen einschränkt und einige wenige begünstigt.
Forderungen nach Verbesserungen
Im Jahr 2022 gab es bereits mehrere Demonstrationen im ganzen Land, die Gerechtigkeit und ein Ende der Gewalt gegen Journalist*innen forderten. Ebenso besorgt über die Zunahme solcher Gewalt und die hohe Straflosigkeit in Mexiko forderte das Europäische Parlament im März die mexikanischen Behörden auf, „Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz und die Schaffung eines sicheren Umfelds für Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen zu gewährleisten und die weit verbreitete Korruption und die Mängel im Justizsystem zu beseitigen, die zu einer hohen Straflosigkeit für diese Verbrechen führen„. Darüber hinaus stellte es fest, dass „das Parlament mit Besorgnis die harsche und systematische Kritik der höchsten Stellen der mexikanischen Regierung an Journalist*innen und ihrer Arbeit zur Kenntnis nimmt.” Die Europaparlamentarier*innen warnten, dass „die Rhetorik des Missbrauchs und der Stigmatisierung eine Atmosphäre der unaufhörlichen Hetze gegen unabhängige Journaliste*innen erzeugt“ und forderten die mexikanische Regierung auf, „jede Kommunikation zu unterlassen, die Journalist*innen und Medienschaffende stigmatisieren könnte„.
Daraufhin erklärte der mexikanische Präsident: „Genug von Korruption, Lügen und Heuchelei. Es ist bedauerlich, dass sie sich wie Schafe der reaktionären und putschistischen Strategie der korrupten Gruppe anschließen, die sich gegen die Vierte Transformation stellt.“ Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass der Präsident in seiner Rede auf die angeblichen „konservativen Kräfte“ im Land hinweist, die seiner Meinung nach seine Regierung angreifen wollen und eine Bedrohung für die Demokratie darstellen. Zu diesen Gruppen gehören auch zivilgesellschaftliche Gruppen, wie feministische Kollektive, Menschenrechtsverteidiger *innen und andere. Außerdem sagte der Präsident in seiner Erklärung vor dem Europäischen Parlament: „Hier wird niemand unterdrückt, die Meinungsfreiheit und die Arbeit der Journalist*innen werden respektiert. Der Staat verstößt nicht mehr gegen die Menschenrechte, wie es unter früheren Regierungen der Fall war, zu denen Sie übrigens mitschuldig geschwiegen haben„.
Auf diese Weise leugnete er die Verletzung der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte durch den mexikanischen Staat, ganz im Gegensatz zu den Berichten, die nationale und internationale Organisationen zu diesem Thema veröffentlicht haben. Die Reaktionen auf das Kommuniqué des Präsidenten waren schnell: Mehrere Medien, Beamt*innen, Akademiker*innen und die Gesellschaft im Allgemeinen beklagten den Mangel an Diplomatie und Professionalität der Erklärung, viele hielten sie sogar für einen Scherz, und einige entschuldigten sich sogar beim Europäischen Parlament für die Rede, die Präsident Andrés Manuel López Obrador nach eigenen Angaben verfasst hatte.
Ein Schutzmechanismus: dringende und notwendige Reform
„Mexiko verfügt über offizielle Stellen zum Schutz von Journalist*innen, entweder durch aktive Maßnahmen oder durch eine Sonderstaatsanwaltschaft für Verbrechen gegen sie. Aber in Wirklichkeit ist es nur eine große und sehr ineffektive Bürokratie (…), die sich an diese Situation gewöhnt und wenig tut, um sie zu verhindern„, beklagte RSG-Generalsekretär Chistophe Deloire. Er bezeichnete die Situation der Presse in Mexiko als „Katastrophe“ und forderte die Behörden auf, radikale Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Situation ein Ende zu setzen.
Seit 2012 hat Mexiko das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verabschiedet und einen föderalen Schutzmechanismus eingerichtet. Dieser Mechanismus hat versucht, Antworten auf die mangelnde Aufmerksamkeit der Behörden zu geben, einschließlich der Versäumnisse der Staatsanwaltschaften, wenn es um den Erlass von Vorsichtsmaßnahmen in Risikosituationen geht. Wie bereits erwähnt, haben die Angriffe auf Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen jedoch weiter zugenommen. Von 2017 bis 2021 wurden laut Artikel 19 7 Journalist*innen ermordet, denen der föderale Mechanismus Maßnahmen gewährt hatte. 2018 bis 2021 waren von den 540 Journalist*innen, die in den föderalen Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen aufgenommen wurden, 341 trotz dessen in irgendeiner Form angegriffen worden, nach Angaben des Innenministeriums.
Im Jahr 2020 erklärte der Unterstaatssekretär für Menschenrechte, Bevölkerung und Migration, Alejandro Encinas Rodríguez, dass „der Mechanismus nicht die direkte Durchführung von Maßnahmen zur Verbrechensprävention veranlasst, er untersucht keine Verbrechen und ist auch nicht für die Bekämpfung der Straflosigkeit verantwortlich. Er hat auch nicht die Macht, die Gewalt in den Staaten auszurotten„. Zu Beginn dieses Jahres forderte der CSO Space eine Reform des Gesetzes, und Anfang 2022 begannen regionale Dialoge zur Förderung eines neuen Schutzgesetzes. Encinas betonte, dass besonderes Augenmerk „auf die Definition der Zuständigkeiten gelegt wird, denn in vielen Fällen sind es die Behörden selbst, die die Angriffe verursachen (…) es muss eine staatliche Politik sein, an der die Behörden der drei Regierungsebenen beteiligt sind”. Journalist*innen und Aktivist*innen äußerten jedoch Zweifel an der Gesetzesreform, insbesondere daran, ob sie ihre Versprechen zur Verhinderung und Aufklärung von Straftaten erfüllen kann.
Die Arbeitsgruppen, die in verschiedenen Teilen des Landes abgehalten wurden, könnten eine Gelegenheit sein, die Diagnosen zu verfeinern, die Bedürfnisse zu überprüfen, eine umfassende Politik zum Schutz der Öffentlichkeit zu entwickeln, um die Ausübung der Meinungsfreiheit durch Journalist*innen zu gewährleisten, die Straflosigkeit bei Angriffen auf die Presse zu bekämpfen und das Recht auf Wahrheit zu garantieren, um nur einige Aspekte zu nennen. Die Anerkennung der Existenz des Problems ist ein erster wichtiger Schritt.