FOKUS: Zwangsvertreibung: globale Krise, nationales Versagen
21/09/2023SIPAZ-Aktivitäten (von Mitte Mai bis Mitte August 2023)
21/09/2023“Warum beharren wir darauf, die Anliegen der Erwachsenen von denen der Kinder und Jugendlichen zu trennen? Sie sind nicht verschieden, aber wir trennen sie gerne. Wir folgen dieser Logik der Trennung: Auf der einen Seite haben wir Räume für Spiel und Spaß, auf der anderen die Räume für die Anliegen der Erwachsenen. Wenn wir einen Dialog zwischen den Generationen führen würden, wenn Erwachsene den Kindern zuhören könnten, ohne sie zu kritisieren, was würde dann in unseren Städten passieren?”
I m August fand in San Cristóbal de Las Casas das Forum „Mit den Kindern von Chiapas Alternativen finden“ statt. Es wurde gemeinsam von Melel Xojobal, dem Netzwerk für die Rechte von Kindern und Jugendlichen (REDIAS) und Slamalil Kinal organisiert. Ziel des Treffens war es, die Probleme, mit denen Kinder und Jugendliche im Staat konfrontiert sind, sichtbar zu machen und die Zusammenarbeit zwischen Organisationen und Kollektiven zu fördern, um Alternativen in diesem Bereich zu stärken. Das Ganze basierte auf der Grundlage der Aussagen von Kindern und Jugendlichen, ihren Träumen und Vorschlägen angesichts neuer Gewaltszenarien.
Die Veranstaltung gliederte sich in drei Hauptpunkte: Eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Wir sind hier und wir wollen ein gutes Leben“. Diese wurde von arbeitenden Kindern und Jugendlichen sowie Mitgliedern des Projekts Kolem Ko’ntontik aus San Cristóbal de Las Casas organisiert und moderiert. Außerdem fand eine Gesprächsrunde statt, um die Geschehnisse in der Stadt und im Staat sowie ihre Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen zu analysieren. Bei der abschließenden Diskussion – „Wir bilden ein „Wir“ für das Leben und den Frieden“ – wurden bereits gemachte Vorschläge erneut besprochen und vertieft.
Das Bild, das sich aus den verschiedenen Stimmen, auch denen der Minderjährigen, ergab, war ziemlich düster. Das Podium der jungen Frauen, das die Veranstaltung eröffnete, sprach von San Cristóbal de Las Casas als einer nicht gerade magischen Stadt*, in der Unsicherheit, Schießereien, Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen, Verschwinden und Todesfälle zugenommen haben. Das hindert sie jedoch nicht daran, Ideen für eine würdigere Gegenwart zu haben. Sie können sich eine Zukunft vorstellen, in der sie Köchinnen oder Ärztinnen sein können, mit dem Gefühl, sich persönlich zu verwirklichen, aber auch, sich in den Dienst der anderen, der Gemeinschaften zu stellen. Der anschließende runde Tisch befasste sich mit der Diagnose dessen, was in der Stadt, im Bundesstaat und in Mexiko geschieht, mit den alten und neuen Formen der Gewalt und ihren Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche.
Melel Xojobal sprach mit uns über „kriminelle Gewalt als tägliche Realität in San Cristóbal de Las Casas, in der sich die Rekrutierung für das organisierte Verbrechen als eine neue Form der Gewalt herauskristallisiert, die immer mehr zunimmt“. Die am meisten gefährdete Bevölkerungsgruppe sind Jugendliche zwischen 12 und 14 Jahren, die größtenteils „in Gegenden leben, in denen kriminelle Gruppen tätig sind, Gewalt in der Familie erleben, nicht zur Schule gehen, unsichere Arbeitsplätze haben oder arbeitslos sind und einen problematischen Drogen- oder Alkoholkonsum aufweisen“, betonten sie. Sie bedauerten auch, dass die Rekrutierung von Jugendlichen nur eine der „sichtbarsten Formen von Gewalt in einem Spektrum von Gewalt ist, mit der sie im Laufe ihres Lebens konfrontiert sind: von häuslicher Gewalt, das häufigste Verbrechen in Chiapas, bis hin zu Verschwindenlassen und Mord“ (die beiden letztgenannten Verbrechen haben auf lokaler und staatlicher Ebene zugenommen, mit wachsenden Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche).
Das Netzwerk für Kinder in Mexiko (REDIM) erweiterte die Perspektiven, indem es Ausschnitte eines nationalen Berichts mit dem Titel „Die Kindheit: Ziele krimineller Gruppierungen. Rekrutierung und Ausnutzung von Kindern und Jugendlichen zum Nachteil ihrer Rechte“ teilte. Während die Rekrutierung eine eher formale Mitgliedschaft in kriminellen Strukturen impliziert, werden viele andere Formen der „Nutzung“ in verschiedenen Bereichen festgestellt. Dazu zählen u.a. Botengänge, Putzen, Überwachung (Ausspäher), Verkauf und Transport von Drogen, Kellnern in Bars und Kantinen, sexuelle Ausbeutung, Auftragsmord.
Eine andere Problematik, die sichtbar wurde, waren Kinder in einer Situation der Mobilität. Voces Mesoamericanas sprach von einem „Mosaik“ von Realitäten: Kinder aus Chiapas, die ihre Gemeinden verlassen, um in die Stadt zu gehen, als Tagelöhner im Norden Mexikos zu arbeiten oder in die Vereinigten Staaten zu gehen, um ihre Familien zu vereinen; vertriebene Kinder; Kinder aus Mittel- und Südamerika oder sogar aus Afrika, die in Chiapas ankommen und versuchen, das Land zu durchqueren, um die Vereinigten Staaten zu erreichen. Eine der größten Herausforderungen, ist laut Voces die Tatsache, dass die organisierte Kriminalität in mehreren Regionen zu einer der wenigen Alternativen zur Migration geworden ist. Die jungen Menschen brauchen eine Quelle für menschenwürdige Arbeit oder Geld, um in ihrem Gebiet zu bleiben.
Chiapas ist einer der ärmsten Bundesstaaten des Landes und hat seinen jungen Menschen wenig zu bieten.
Die Zunahme von Selbstmordfällen unter jungen Menschen im Hochland von Chiapas wurde im Forum ebenso deutlich wie der Rassismus, der gegenüber der indigenen Bevölkerung herrscht.
Der anschließende runde Tisch ermöglichte es uns, einige der konsolidierten Antworten, ihre Lektionen und Herausforderungen kennenzulernen und Ideen für weitere Alternativen zu entwickeln. Kunst, Sport, kreative Methoden zur Bewältigung verschiedener Probleme, die Wiederbelebung indigener Sprachen, Aktivitäten im Zusammenhang mit der Erhaltung der Umwelt, der Spiritualität und der Kultur sind Elemente, die viele der Kollektive, Organisationen und Nachbarschaftsstrukturen, die ihre Erfahrungen mitteilten, antreiben.
Die Withaker Peace and Development Initiative (wpdi), die die Beiträge systematisierte, forderte uns auf, nicht nur darüber nachzudenken, wie man Kindern und Jugendlichen Beteiligungsräume eröffnet, sondern sie auch mit ihnen zu entwickeln, um die Zukunft durch echte Dialoge zwischen den Generationen zu erträumen.
Gegen Ende des Tages wies Melel Xojobal darauf hin, wie wichtig es sei, Aktionen und Netzwerke weiterhin miteinander zu verknüpfen, „ohne sich zu verknoten“, um das Misstrauen zu überwinden, das inmitten von so viel Gewalt wächst. Stattdessen halten sie es für wichtig, die Freude, die Hoffnungen, den Antrieb und die Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu bekräftigen. Sie betonten auch, wie wichtig es sei, verschiedene Ansichten und Perspektiven zusammenzubringen, um unsere Begleitung zu verbessern. Sie hoffen, durch diesen gemeinsamen Raum eine umfassendere Diagnose der Situation in San Cristóbal de Las Casas veröffentlichen zu können.
Ein Vertreter von Slamalil Kinal sagte: „Die Lage im Bundesstaat ist düster. Aber wir wollen weiterhin Räume unterstützen und festigen, die Alternativen aufbauen. Ich sehe ein Gremium von rein jugendlichen Frauen und ich sehe weiterhin Hoffnung und Widerstandskraft. Unsere Kindheit und Jugend sind die Saat für die Zukunft. Wie der Experte für positive Konflikttransformation, Juan Pablo Lederach, sagt: Der Aufbau von Frieden ist so, als würde man einem Maisfeld beim Wachsen zuhören. Na gut, da er aus den Vereinigten Staaten kommt, sprach er über Rasen… Aber der Punkt ist, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen, dass wir den Blick für die Zukunft nicht verlieren dürfen und, dass wir das im Auge behalten müssen, was trotz allem weiterwächst“.
*Die Stadt trägt den Spitznamen „Pueblo Mágico“.