SIPAZ – Aktivitäten (Mitte August bis Mitte November 2023)
08/06/2024SPEZIAL: Wahlen 2024
01/07/2024
I m März erklärte der Hochkommissar der Vereinten Nationen, Volker Türk, dass die bevorstehenden Wahlen in Mexiko “vor Gewalt geschützt werden müssen”. Am 2. Juni werden bei diesen Wahlen mehr als 20.000 Amtsträger*innen bestimmt, darunter das Staatsoberhaupt, die Mitglieder beider Kongresskammern und eine Vielzahl staatlicher und lokaler Vertreter*innen und Behörden.
Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) spielte das Risiko herunter, indem er erklärte, dass es “glücklicherweise nichts Ernstes gibt”. Er sagte, dass “der Hohe Kommissar (bei allem Respekt) sehr voreingenommen ist; er ist gegen uns und steht in Verbindung mit denen, die beweisen wollen, dass Mexiko ein sehr gewalttätiges Land ist. Sie können selbst sehen, was unsere Gegner und die manipulativen Medien tun”. López Obrador prangerte an, dass es “diese Atmosphäre” gebe, in der seine “Gegner” das Narrativ “der Gewalt und der Beleidigung gegenüber Journalisten und Kandidaten schaffen wollen. Mit anderen Worten, sie versuchen, die Atmosphäre zu trüben”.
Kurz vor den Wahlen standen bereits mehr als 500 Kandidat*innen unter dem Schutz des Bundes und wurden von mehr als 3.000 Streitkräften geschützt. Die Behörden räumen ein, dass seit Beginn des Wahlprozesses 15 Kandidaten ermordet wurden, die Bürgerorganisation Data Cívica zählt jedoch 30, während das Beratungsunternehmen Datalnt 39 ermordete Kandidat*innen und insgesamt 149 politische Morde dokumentiert, darunter auch Berater*innen und Familienmitglieder der Politik*innen. Die Regierung hat außerdem angekündigt, dass das Land am Wahltag von mehr als 260.000 Streitkräften und der Nationalgarde bewacht wird.
Im April stellten Data Cívica, México Evalúa und Animal Político eine neue Studie mit dem Titel “Gefährdete Demokratie: Das organisierte Verbrechen bei den Wahlen und in der öffentlichen Verwaltung in Mexiko” vor. Sie kommen zu dem Schluss, dass die politisch kriminelle Gewalt in Mexiko nicht nur Parteien und Kandidat*innen betrifft, sondern dass die Gewalt gegen alle Arten von politischen Akteur*innen zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung um drei Prozentpunkte führt. Ebenso steigt mit jedem Angriff auf Kandidat*innen die Abwesenheit von Wahllokalbeamt*innen um fast 1%. Die Studie bestätigt, dass mehr als 77% der Opfer politisch-krimineller Gewalt ein Amt anstrebten oder ein Amt besetzten, das der Staatsordnung entspricht. „Das Interesse der kriminellen Organisationen liegt auf der lokalen Ebene, denn so bauen sie ihre territoriale Kontrolle auf: Ort für Ort, um Gemeinden und ganze Regionen zu kontrollieren“, heißt es in der Studie.
Gewalt in Mexiko: Unstimmigkeiten bei der Diagnose
Im März traf sich die mexikanische Bischofskonferenz (CEM) mit den drei Präsidentschaftskandidat*innen für die Wahlen 2024, Claudia Sheinbaum, Xóchitl Gálvez und Jorge Álvarez Máynez, zur Unterzeichnung der “Nationalen Verpflichtung für den Frieden”. Das Dokument enthält 117 Vorschläge zu Sicherheit, Gerechtigkeit, menschlicher Entwicklung und Menschenrechten, die in Foren in den Bundesstaaten erarbeitet wurden, an denen 2023 mehr als 18.000 Menschen teilnahmen. Ziel ist es, “einen Weg zu finden, um kollektive Maßnahmen zu ergreifen, mit denen die Krise der Gewalt und des sozialen Zerfalls, der unser Land bedroht, bewältigt werden kann”. Unter Vorbehalt der Morenista-Kandidatin Claudia Sheinbaum unterzeichneten die drei Präsidentschaftskandidaten die Vereinbarung, im Falle ihres Wahlsiegs den Frieden zu suchen. Sheinbaums Einwände beruhen darauf, dass sie die in dem Dokument enthaltene Diagnose nicht teilt.
„Ich komme, um mich nicht nur persönlich zu verpflichten, Movimiento Ciudadano [mexikanische Partei] nimmt dieses Dokument auf und unsere Kandidaten (…) werden verpflichtet sein, diese Vision eines Strategiewechsels, einer Änderung des Sicherheitsmodells, das das Land dringend braucht, zu unterstützen. Wir müssen aus diesem Horror herauskommen, und ich begrüße diese Bemühungen, diesen Weg einzuschlagen„, sagte der Kandidat des Movimiento Ciudadano, Álvarez Máynez. Er räumte ein, dass er in der Umfrage nicht vorne liege und bezeichnete es als besorgniserregend, dass die beiden Spitzenkandidatinnen Teil der fehlgeschlagenen Strategien gewesen seien.
Die Kandidatin der Koalition “Fuerza y Corazón por México” (Kraft und Herz für Mexiko) der Parteien PRI, PAN und PRD, Xóchitl Gálvez, erklärte, dass sie “eine perfekte Harmonie und Übereinstimmung mit dem findet, was ich in den Tagen unseres Wahlkampfes vorgebracht habe, und 15 Sicherheitsvorschläge und für mich der wichtigste ist die Entmilitarisierung der öffentlichen Verwaltung”.
Die Präsidentschaftskandidatin von Morena, PT und Verde, Claudia Sheinbaum, nannte mehrere Punkte mit denen sie nicht einverstanden war: die „pessimistische“ Diagnose sowie “die Verweise auf eine angebliche Militarisierung im Land und die Punkte, in denen die Rolle des Staates minimiert oder relativiert wird” Am folgenden Tag erklärte AMLO: “Natürlich respektiere ich die Kirchen sehr, aber im politischen Sinne bin ich nicht damit einverstanden, ein Umfeld zu schaffen, das es nicht gibt”.
Viele offene Fragen zur Situation der Menschenrechte
Im April veröffentlichte das mexikanische Zentrum für Umweltrechte (CEMDA) seinen Bericht aus 2023 über die Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen im Umweltbereich, aus dem hervorging, dass im vergangenen Jahr 20 von ihnen ermordet wurden. Damit steigt die Gesamtzahl der ermordeten Umweltschützer*innen während der sechsjährigen Amtszeit AMLOs auf 102. Im gleichen Zeitraum wurden 282 Angriffe auf 416 Personen und Gemeinden registriert, die sich für Menschenrechte im Umweltbereich einsetzen. Der Hauptangreifer war die Regierung, die in 61 von 123 Fällen involviert war, gefolgt von dem organisierten Verbrechen mit 37 Fällen und von Privatunternehmen mit 19 Fällen. Von diesen Vorfällen standen 12 in Zusammenhang mit dem Megaprojekt “Tren Maya” und 6 mit dem Interozeanischen Korridor des Isthmus von Tehuantepec. 57,7% der Angriffe waren gegen die indigene Bevölkerung gerichtet.
Im April wies das “Red Todos los Derechos para Todas y Todos”, Red TDT (Netzwerk: Alle Rechte für alle), “die von Präsident AMLO in seiner Morgenrede vorgenommene Kriminalisierung des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas in Chiapas und des Menschenrechtszentrums Miguel Augustín Pro Juárez in Mexiko-Stadt” zurück. “ Dieser Diskurs verschlimmert die Realität, da Mexiko weiterhin eines der gefährlichsten Länder für den Journalismus und die Verteidigung der Menschenrechte ist. Mit der UN-Menschenrechtskommission registrierten sie, dass zwischen Januar 2019 und Februar 2024 mindestens 103 Menschenrechtsverteidiger*innen, 41 Journalist*innen und 7 Medienschaffende wahrscheinlich im Zusammenhang mit ihrer Arbeit ermordet wurden. Außerdem sind 38 Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verschwunden, 25 von ihnen sind wieder frei und 13 werden noch vermisst”. Kurz zuvor hatte AMLO über beide Organisationen gesagt: “Sie versuchen, eine Atmosphäre der Gewalt zu schaffen, die nicht die Dimensionen hat, die sie registrieren”.
Laut dem Nationalen Militarisierungsinventar wurden zwischen 2006 und 2023 mindestens 291 Fälle registriert, in denen die drei Regierungsebenen zivile Funktionen und Budgets auf die Streitkräfte übertragen haben. Dies geschah durch zwei Verfassungsreformen, 12 föderale Gesetzesreformen, 19 Präsidialerlasse und -vereinbarungen sowie 258 private Vereinbarungen zwischen den Streitkräften und den zivilen Behörden auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Die Regierung von AMLO hat Mexiko am stärksten militarisiert, da 83% der Vereinbarungen, die mit den Streitkräften getroffen wurden, nichts mit der Sicherheit zu tun hatten. Es wurden die Unterzeichnung von 19 Militärabkommen dokumentiert, die während der laufenden sechsjährigen Amtszeit geschlossen wurden. Die meisten von ihnen führen zur Gründung staatlicher Unternehmen, die von den Streitkräften kontrolliert werden, und ermöglichen ihnen die Beteiligung an vorrangigen Regierungsprojekten wie dem Tren-Maya. Das Nationale Milittarisierungsinventar argumentiert, dass die Militarisierung problematisch sei: “Erstens, weil es sich um einen Prozess handelt, der gegen die Verfassung verstößt. Zweitens, weil die Streitkräfte unter einem besonderen Regime verwaltet werden und daher nicht denselben Verpflichtungen und Kontrollen unterliegen wie zivile Einrichtungen (…). Drittens, weil empirische Belege aus Mexiko zeigen, dass die Beteiligung der Streitkräfte an Aufgaben der öffentlichen Sicherheit die Gewalt nicht nur nicht eingedämmt hat, sondern zu ihrer Verschärfung beigetragen hat”.
CHIAPAS: Zwischen Gewalt im Rahmen der Wahlen und krimineller Gewalt
Im Mai brachten Bischöfe von Chiapas ihre Besorgnis über die Situation in einigen Regionen des Bundesstaates zum Ausdruck, die von der Gewalt des organisierten Verbrechens betroffen sind und in denen ihrer Meinung nach die Voraussetzungen für die Durchführung von Wahlen nicht gegeben sind. Sie sprachen über “die Welle der Gewalt in unseren Diözesen, die die Gesellschaft destabilisiert und oft von der organisierten Kriminalität ausgeht”, und über “die Korruption auf allen Ebenen der Regierung, die das Wohlergehen der Gemeinden und Familien stark beeinträchtigt”. Sie nannten auch andere Herausforderungen wie Migration, Erpressungszahlungen, Unsicherheit, weit verbreitete Armut, Rückstand im Bildungs- und Gesundheitswesen, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Sie stellten außerdem fest, dass den Kandidat*innen auf allen Ebenen konkrete Vorschläge zur Bewältigung dieser Problematiken zu fehlen scheinen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in Chiapas insgesamt 15 Angriffe auf Wahlkandidat*innen und Anwärter*innen, von denen vier getötet wurden.
Während sich die Brennpunkte in fast allen Teilen des Bundesstaates vervielfachen, sind die Gebiete mit der höchsten Gewaltintensität des Grenzgebiets sowie die Gebirgsregion. Im April reagierte das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) auf die Vorwürfe von Präsident AMLO, das Zentrum habe die Gewalt in Chiapas “vergrößert”. Frayba bekräftigte, dass “wir mit Besorgnis festgestellt und sichtbar gemacht haben, dass sich die Situation der Gewalt mindestens seit Juni 2021 wie ein Krebsgeschwür in unserem Bundesstaat im Rahmen des kriminellen Streits um die Kontrolle des Territoriums vertieft hat. Diese Situation ist nicht nur durch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Gruppen gekennzeichnet, sondern auch durch den Versuch, das soziale, wirtschaftliche und politische Leben der Gemeinden in hohem Maße durch Strategien des Terrors zu kontrollieren. Infolgedessen ist die Bevölkerung von Chiapas von schwerwiegenden Auswirkungen betroffen, wobei der Schwerpunkt auf, der Grenz- und der Gebirgsregion liegt, mit der Tendenz, sich auf andere Regionen des Bundesstaates auszudehnen”.
Ein anderes schwerwiegendes Ereignis geschah im Mai, als elf Menschen in Nuevo Morelia, Chicomuselo, im Rahmen von Zusammenstößen zwischen den Kartellen Jalisco Nueva Generación (CJNG) und Sinaloa (CS) getötet wurden, die in den Tagen zuvor rekrutiert worden waren. AMLO räumte ein, dass es in diesem Gebiet Probleme mit der “Unsicherheit” gebe. Er versicherte jedoch, dass die Voraussetzungen für die Realisierung der Wahlen in Chiapas am 2. Juni gegeben seien.
Auswirkungen der zunehmenden Gewalt
Das Ausmaß der Gewalt wirkt sich zunehmend auf die Bevölkerung aus. Im Februar warnte die Organisation Melel Xojobal, dass mehr als 2.507 Kinder und Jugendliche im Hochland von Chiapas Gefahr laufen, von der organisierten Kriminalität rekrutiert zu werden. Sie erklärten, dass die meisten Opfer der Zwangsrekrutierung zwischen 15 und 21 Jahre alt und indigen sind. Die jungen Leute werden gezwungen, Botengänge zu machen, Drogen zu verkaufen und zu transportieren, andere zu rekrutieren und Überwachungs- oder Kojoten Arbeit zu verrichten. Frauen werden gezwungen, in Bars und Kantinen zu putzen und zu kellnern. Sie werden außerdem Opfer sexueller Ausbeutung. Junge Menschen können auch gezwungen werden, an Zusammenstößen mit rivalisierenden Gruppen teilzunehmen, sich an Bandenkriminalität zu beteiligen oder Auftragsmorde zu begehen.
Im März, anlässlich des Internationalen Frauentags, demonstrierten Tausende von Frauen in verschiedenen Städten von Chiapas, um Gerechtigkeit für die Opfer von Feminiziden und ein Ende der Gewalt gegen Frauen zu fordern. Nach Angaben des staatlichen Warnzentrums für geschlechtsspezifische Gewalt (Alerta de Violencia de Género, AVG) wurden im Jahr 2023 2.302 Verbrechen in Ermittlungsakten dokumentiert. Der größte Teil entfällt auf häusliche Gewalt (899), gefolgt von pädophilen Vergehen (387), Vergewaltigungen (288), Nichteinhaltung familiärer Beistandspflichten (282), sexuellem Missbrauch (154), sexueller Belästigung (92), Straftaten gegen die sexuelle Privatsphäre oder körperliche Intimität (52), Feminizid (35) und anderen.
Im April stellte Frayba ihren neuesten Bericht “Tocar el Vacío” (Die Leere berühren) vor, der darauf abzielt, eine erste Untersuchung des Problems des Verschwindenlassens vorzunehmen, ein Phänomen, das in diesem Bundesstaat exponentiell zunimmt. “Im Jahr 2019 wurden insgesamt 68 vermisste Personen registriert, im Jahr 2022 waren es bereits 244 vermisste Personen und Jahr für Jahr steigt die Zahl. In diesem Zeitraum hat das Phänomen 358% zugenommen” (siehe Fokus). Im Mai haben Tausende von Müttern in Chiapas im Rahmen des Muttertags symbolische Aktionen durchgeführt, um Wahrheit, Gerechtigkeit und Garantien für die Nichtwiederholung des Verschwindenlassens, der Feminizide und der Ermordung ihrer Söhne und Töchter zu fordern.
Forderungen und Reaktionen auf ein schwieriges Umfeld
Trotz der widrigen Umstände wurden Aktionen für das Leben, den Frieden und die Sicherheit fortgesetzt. Im März demonstrierten mehr als tausend indigene Tzeltales aus der in Chilón, um ein Ende der von politischen Parteien und kriminellen Gruppen ausgehenden Gewalt zu fordern. Sie erklärten, dass sie weiterhin “aus der Autonomie heraus Lebenswege aufbauen”, “das Kollektiv im Gegensatz zum Individuum fördern“ und “für die Mutter Erde im Angesicht der extraktivistischen Bedrohung” kämpfen werden.
Im März protestierten Einwohner*innen und Aktivist*innen anlässlich des Weltwassertags in San Cristóbal de Las Casas für den Schutz des Wassers und des Lebens. Sie erklärten, dass “Mexiko aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit und Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch vor ernsten Problemen und Herausforderungen steht. Die schwere Dürre, die und erschüttert, hat mehrere miteinander verknüpfte Ursachen: Klimawandel, Abholzung, Bevölkerungswachstum, das Fehlen einer Kultur des Wasserschutzes, die Umsetzung einer öffentlichen Politik, die den Gesetzen des globalisierten Marktes folgt, sowie ein Wassermanagementmodell, das zu Verschmutzung, Enteignung und Privatisierung der lebenswichtigen Flüssigkeit führt”.
Im März rief die Gemeindeverwaltung von Nicolás Ruiz die umliegenden Dörfer auf, eine “Allianz für die Sicherheit und das Wohl des Gebiets” zu bilden. Sie sagten, dass “wir gemeinsam auf uns aufpassen können, weil wir nicht wollen, dass sich die Ereignisse vom 1. März 2024 nicht wiederholen, als eine Gruppe von Personen des organisierten Verbrechens in unser Gebiet eingedrungen ist, um ihre illegale Arbeit zu verrichten”. Sie prangerten an, dass “der mexikanische Staat sehr wohl weiß, was vor sich geht, und wir fordern, dass er seine Leute kontrolliert, weil Regierungsinstitutionen und hohe Beamte die Aktionen dieser Gruppen zulassen und schützen”.
Im April demonstrierten mehr als 300 Menschen für Frieden und Sicherheit in San Cristóbal de Las Casas. Zu dieser Demonstration wurde aufgerufen, nachdem ein paar Tage zuvor ein 11-jähriger Junge entführt worden war. Obwohl das Kind in der Nacht vor dem Protest von der Polizei wohlbehalten gerettet wurde, beschloss man, die Demonstration durchzuführen. Die Demonstrant*innen, darunter viele Kinder aus den Vierteln des Nordens der Stadt, trugen weiße Fahnen und Luftballons. Der Fall der Entführung des Jungen reiht sich ein in die 2.476 Fälle von Kindern und Jugendlichen, die zwischen 2018 und März 2024 verschwunden sind und von denen 40% noch nicht gefunden wurden.
Im April pilgerten katholische Tzotziles in der Gemeinde Chalchihután, um zu fordern, dass die bevorstehenden Wahlen “in Frieden, ohne Waffen und ohne Gewalt stattfinden” und, dass “die Wahlen frei und geheim” sind. Mehr als tausend Personen schlossen sich diesem Pilgerweg “Für das Leben und den Frieden” an.
OAXACA: Sorgen innerhalb und außerhalb des Wahlrahmens
Im März fand in Santa María Atzompa das Forum zur Verteidigung des Territoriums und des sozialen Eigentums statt. In einer Abschlusserklärung prangerten die Teilnehmer*innen “die zunehmenden Versuche, das Land zu privatisieren, an, wie der gescheiterte Vorschlag der Regierung des Bundesstaates Morenista (…) mit dem Programm zur Zertifizierung von Land, das aufgrund von Druck und Unzufriedenheit zurückgesetzt werden musste. Das bedeutet aber nicht, dass das der einzige Versuch sein wird, insbesondere angesichts der Durchsetzung großer Megaprojekte durch private Unternehmen in Absprache mit dem Staat”. Sie verurteilten auch die “Politik der Ausplünderung und des Vernichtungskrieges gegen unsere einheimischen Völker und Gemeinden, unsere Lebens- Organisationsformen” und wiesen darauf hin, dass die Politik der Ausplünderung von sozialen Wohlfahrtsprogrammen begleitet wird, die den Individualismus fördern und die Kollektivität zerstören. Sie bekräftigten, dass sie weiterhin “Widerstands- und Organisationsbewegungen zur Verteidigung und zum Schutz des Landes, der natürlichen Ressourcen, der Territorien und zur Bewahrung der traditionellen Lebensweise” aufbauen werden.
Im April berichteten elf zapotekische Gemeinden aus Valles Centrales, die Teil der Organisation “Frente No a la Minería por un Futuro de Todas y Todos” (Nein zum Bergbau für eine Zukunft für alle) sind, dass sie die vollständige Aussetzung der Bergbaukonzessionen in ihren Gebieten erreicht haben, die von dem Bergbauprojekt Fortuna Silver Mines (FMS) in San José del Progreso betroffen sind. Sie erinnerten daran, dass “unsere Entscheidungen in unseren Erklärungen zu den für den Bergbau verbotenen Gebieten zum Ausdruck kommen”. Sie prangerten an, dass “beide Regierungsebenen weit davon entfernt waren, unsere Rechte anzuerkennen, zu respektieren und zu garantieren, und versuchten, den Bergbau in unseren Gebieten zu fördern, wodurch unser Recht auf Selbstbestimmung verletzt wurde”.
Im März demonstrierten im Rahmen des internationalen Frauentags Hunderte von Frauen in Oaxaca, um Gerechtigkeit für die Fälle von Frauen zu fordern, die im Bundesstaat vergewaltigt wurden, verschwunden sind oder ermordet wurden. Nach Angaben der Frauenforschungsgruppe Rosario Castellanos sind seit Beginn der Regierung von Gouverneur Salomón Jara im Jahr 2022 126 Frauen Opfer von Feminizid geworden. Im Vorfeld der Demonstrationen prangerten die Frauenorganisationen und -kollektive die „Kampagne der Stigmatisierung und Kriminalisierung gegen Proteste und Märsche (…) an. Wir verurteilen die Konstruktion eines Narrativs, dass Frauen, die in ihrem legitimen Recht auf Protest heute auf die Straße gehen werden, um die unter dem Schutz des Staates zunehmende frauenfeindliche Gewalt anzuprangern, verurteilt. Sie äußerten ihre Besorgnis darüber, dass “feministische Kollektive und Gruppen – auch die, an denen Kinder beteiligt sind – ins Visier genommen und herausgepickt werden, um sie mit der Öffentlichkeit zu konfrontieren”.
GUERRERO: Der Bundesstaat mit den meisten Opfern politischer Gewalt
Bis Mitte Mai war Guerrero der Bundesstaat mit den meisten politischen Opfern politischer Gewalt im Wahlkampf 2024, denn es wurden mindestens 80 Fälle registriert. Unter den Ermordeten befanden sich Ricardo Taja, Kandidat für das Amt des Gemeindepräsidenten von Acapulco, und Tomás Morales Patrón, Kandidat für das Amt des Gemeindepräsidenten von Chilapa, beide von der Partei Morena. Ebenfalls ermordet wurden Jaime Dámaso Solís, Kandidat der Partei Acción Nacional für das Amt des Gemeindepräsidenten von Zitala, Marcelino Ruiz, Kandidat der der Partei Revolución Democrática für das Amt des Gemeindepräsidenten von Atlixtac sowie Alfredo González, Kandidat der Arbeiterpartei (Partido del Trabajo) für das Amt des Gemeindepräsidenten von Atoyac. Die meisten Angriffe wurden aus den Gemeinden Taxco, Chilpancingo und Coyuca gemeldet. Ebenso meldeten 22 Gemeinden Fälle von geschlechtsspezifischer politischer Gewalt, von der sowohl Männer als auch Frauen betroffen waren.
Auch die Frustration und Verzweiflung über die fehlenden Fortschritte im Fall des Verschwindenlassens der 43 Studierenden aus Ayotzinapa im Jahr 2014 wuchs. Im März brach eine Gruppe von Studierenden aus Ayotzinapa gewaltsam eine der Türen des Nationalpalastes auf. Die Student*innen waren zusammen mit Angehörigen der 43 Verschwundenen auf dem Zócalo in Mexiko-Stadt, um gegen die ausbleibenden Antworten der Regierung in diesem Fall zu protestieren. Die Väter und Mütter der 43 Studierenden erinnerten daran, dass López Obrador in seiner Präsidentschaftskampagne versprochen hatte, den Fall Ayotzinapa abzuschließen, aber Monate vor dem Ende seiner Amtszeit hat er sein Versprechen immer noch nicht eingelöst und im Gegenteil angekündigt, dass der Fall in dieser sechsjährigen Amtszeit nicht gelöst werden wird.
Im März wurde Yanqui Kothan Gómez Peralta, ein Student aus Ayotzinapa, getötet und ein weiterer verletzt: Die Polizei schoss, als sie an einem Kontrollpunkt nicht an anhielten. Der Minister für öffentliche Sicherheit von Guerrero bezeichnete den Vorfall als “ein zufälliges Ereignis”. Das Menschenrechtszentrum Tlachinollan erklärte: “Angesichts einer schwerwiegenden Verletzung der Menschenrechte sollte eine Regierung, die sich selbst als demokratisch bezeichnet, zumindest eine objektive und unparteiische Untersuchung gewährleisten, den Tatort schützen und die Polizei bei den zuständigen Behörden anzeigen. Sie haben das Gegenteil getan, sie haben die Polizei ihre eigene Version der Fakten zusammenstellen lassen und ihre Vorgesetzten ihre kriminellen Handlungen gutheißen lassen (…) Mit ihrer falschen Version fördern sie den medialen Lynchmord an den zukünftigen Lehrkräften [die Universität Ayotzinapa unterrichtet Lehramt]. Sie rufen zu Gewalt und scharfen Positionen auf. Sie konzentrieren ihre Angriffe auf die Lehramtsstudierenden, indem sie diese als Ursache für Chaos und Gewalt darstellen, obwohl die Täter*innen schwerer Menschenverletzungen als Agent*innen des Staates dienen”.
Im April hat die Bevölkerung der Me’phaa in der Gemeinde Malinatepec ein neues indigenes Sicherheits- und Justizsystem ins Leben gerufen, das auf Autonomie, Selbstbestimmung und Anerkennung der Autoritäten des Volkes beruht. Das so genannte Indigene Territoriale Sicherheits- und Justizsystem (Serti) soll sich angesichts der Bedrohung durch kriminelle Organisationen, die das Leben der Bevölkerung in die Hand nehmen, angesichts der Ansiedlung von Bergbauunternehmen und angesichts der Krise der Regierungsführung in der Region etablieren.