SPEZIAL: Wahlen 2024
01/07/2024ARTIKEL: Wege der Hoffnung für Chiapas
01/07/2024Mit dem Verschwinden von Menschen zu arbeiten, bedeutet, in den Bereich der Leere von Seelen vorzudringen. Das Verschwinden unterbricht den Lebensweg eines Menschen und verändert ihn vollständig und endgültig. Aus diesem Grund können Organisationen und Personen, die sich mit dem Thema befassen, es nicht angehen, ohne sich ganz auf die Dimension des Herzens einzulassen, auf alles, was sich in den Emotionen und in den Beziehungen der Menschen bewegt, die davon erschüttert werden.
Eine Krise ohne Bremse
Seit einigen Jahren dokumentieren und prangern verschiedene Menschenrechtsorganisationen und Kollektive von suchenden Familien die Krise des Verschwindenlassens in Mexiko an. Im Jahr 2023 sprach man mit Erstaunen über die alarmierende Zahl von 100.000 Verschwundenen, heute sind es bereits mehr als 116.000.
Einem Artikel des Menschenrechtsprogramms der Universität Minnesota zufolge “hat sich die Krise des Verschwindenlassens als Teil eines größeren Musters krimineller Gewalt in Mexiko entwickelt, das durch die Aktivitäten des organisierten Verbrechens und die Beteiligung, Unterstützung oder Duldung staatlicher Akteure an diesen kriminellen Aktivitäten angetrieben wird”. Weiter heißt es: “Selbst, wenn der Staat nicht direkt in das Verschwindenlassen von Personen verwickelt ist, trägt er eine Verantwortung für die Verhinderung und Bestrafung der Täter sowie für die Suche nach den Verschwundenen, so dass der Kontext der Straflosigkeit in Mexiko zur Krise des Verschwindenlassens beigetragen hat”.
Die Leere berühren
Im April stellte die Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen in Chiapas, bestehend aus Voces Mesoamericanas, Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba), Servicios y Asesoría para la Paz (Serapaz) und Melel Xojobal, den Bericht “Tocar el Vacío” (Die Leere berühren) vor. Der Bericht zielt darauf ab, einen Überblick über die Situation des Verschwindenlassens in Chiapas zu geben. “Dabei handelt es sich um ein historisches Problem, das gegenwärtig einen exponentiellen Anstieg erfährt, hauptsächlich aufgrund eines starken Kampfes um territoriale und soziale Kontrolle durch das organisierte Verbrechen.”
Das Nationale Register der verschwundenen und vermissten Personen (RNPDNO) zählte im Jahr 2019 insgesamt 68 vermisste und verschwundene Menschen in Chiapas, 87 im Jahr 2020, 162 im Jahr 2021 und 244 im Jahr 2022. Das bedeutet einen Anstieg von 358% zwischen 2019 und 2022.
Der Bericht stellt jedoch fest, dass “entgegen allen offiziellen Zahlen, stellen wir, die Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen in Chiapas, fest, dass dieses Phänomen zugenommen hat und die Zahlen bei weitem höher sind als die, die von irgendeiner staatlichen Stelle wiedergegeben werden”.
Der Bericht handelt über die aktuelle Krise im Staat aufgrund des Streits um territoriale Kontrolle und deren Auswirkungen auf das Phänomen des Verschwindenlassens. Darin wird erwähnt, dass “diese Konfrontation bisher Tausende von Zivilist*innen inmitten eines Krieges zurückgelassen hat, unter der ständigen Bedrohung, Opfer von Verbrechen wie dem gewaltsamen Verschwindenlassen im Zusammenhang mit Tötungsdelikten und Feminiziden, Zwangsrekrutierung oder Menschenhandel zu werden. Das Verschweigen ganzer Landstriche sowie staatliche Verleugnung und Verharmlosung verhindern, dass wir die wahren Ausmaße dieser Situation erkennen können. Spätestens seit Juni 2021 zeichnen sich die Hochland- und Grenzregion durch die Gewalt aus, die durch Gebietsstreitigkeiten zwischen Gruppen des organisierten Verbrechens und verschiedenen bewaffneten Akteuren verschärft und provoziert wird, die die Bevölkerung durch Drohungen, Erpressung und das Verschwindenlassen von Personen kontrollieren”.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der in dem Bericht hervorgehoben wird, ist die Vielfalt der Situationen und Kontexte, in denen es zum Verschwindenlassen von Personen kommt, und wie sie sich auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen auswirken, die auf unterschiedlicher Weise Opfer dieses Verbrechens werden. Es ist die Rede vom Verschwindenlassen im Zusammenhang mit der territorialen Kontrolle des organisierten Verbrechens, im Kontext politisch-elektoraler Gewalt oder im Rahmen von willkürlichen Verhaftungen durch staatliche Akteur*innen. Was die Opfer betrifft, so erwähnen sie die besondere Gefährdung von Menschen auf der Flucht, Frauen, Kinder und Jugendliche sowie Menschenrechtsverteidiger*innen.
Was das Verschwinden von Frauen und weiteren FLINTA* Personen betrifft, “ist Chiapas nach den Zahlen, die der UN-Ausschuss für das Verschwindenlassen (CED) nach seinem Besuch in Mexiko im Jahr 2021 erhoben hat, einer der Bundesstaaten, in denen das Verschwinden von Frauen den nationalen Durchschnitt von 25% weit übersteigt und mehr als 60% erreicht, wovon hauptsächlich Mädchen zwischen 10 und 19 Jahren betroffen sind. Den dokumentierten Fällen zufolge handelt es sich um das Verschwindenlassen im Zusammenhang mit der Entführung von Minderjährigen, das Verschwindenlassen als Mittel zur Verschleierung von sexueller Gewalt, Feminizid und Rekrutierung. Es wurde auch über das Verschwindenlassens zum Zwecke des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung berichtet”.
Der Bericht zeigt auf, dass es einen Unterschied zwischen dem Verschwinden von Frauen und Männern je nach Altersgruppe gibt. Während die Mehrheit der verschwundenen Männer zwischen 25 und 44 Jahre alt ist, ist die Zahl der verschwundenen Frauen im Alter von 10 bis 24 Jahren höher.
Im Abschnitt über Menschenrechtsverteidiger*innen wird im Bericht festgestellt, dass “von 2019 bis heute mindestens 46 Fälle des Verschwindens von Menschenrechtsverteidiger*innen, die einer indigenen Bevölkerungsgruppe in Mexiko angehören, verzeichnet wurden, viele davon arbeiteten für die Verteidigung des Territoriums… In den meisten Fällen von Mord und Verschwinden lassen sich die Hypothesen hauptsächlich auf Gruppen des organisierten Verbrechens zurückführen, die mit wirtschaftlicher und politischer Macht verflochten sind und für die die Verteidigung der Menschenrechte ein Hindernis darstellt”.
Was die Mobilität der Menschen betrifft, so weist die Organisation Voces Mesoamericanas darauf hin, dass von der Gesamtzahl der in Mexiko verschwundenen Personen mindestens 2.781 Ausländer*innen sind, d.h. transnationale Migrant*innen, vor allem aus Mittelamerika. Leider gibt es kein wirkliches Register der auf mexikanischem Staatsgebiet verschwundenen einheimischen Migrant*innen. In dem Bericht wird erwähnt, dass nationale und internationale Organisationen der Zivilgesellschaft im Juni 2010 eine erste Erhebung im Bundesstaat Chiapas durchgeführt haben, um das Problem des Verschwindenlassens von Migrant*innen sichtbar zu machen und statistisch zu erfassen. Und zwar nicht nur von Migrant*innen auf der Durchreise, sondern auch von Einheimischen, die auf ihrer Migrationsreise verschwunden sind. Im Laufe von 10 Monaten konnten 90 Fälle des Verschwindens von einheimische Migrant*innen, die meist indigenen Bevölkerungsgruppen angehören, erfasst werden. “In diesem Zusammenhang wurde das Komitee der Vereinigten Familien von Chiapas auf der Suche nach unseren Migrant*innen, Junax Ko’tantik, gegründet, das bis heute besteht und Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung, Nicht-Wiederholung und kollektives Gedenken fordert”, heißt es in dem Bericht.
Was das Verschwindenlassen von Kindern und Jugendlichen (NNA) betrifft, so berichtet die Organisation Melel Xojobal, dass Chiapas landesweit an vierter Stelle steht. In ihren eigenen Aufzeichnungen zählten sie 2.144 Fälle des Verschwindenlassens von Minderjährigen im Gegensatz zu den 1.476, die offiziell vom RNPDNO gemeldet wurden. In Tuxtla Gutiérrez, Tapachula und San Cristóbal de Las Casas seien die höchsten Zahlen zu verzeichnen, wobei die letztgenannte Stadt die höchste Rate an verschwundenen Kindern und Jugendlichen im ganzen Bundesstaat aufweise, d.h. sie sei der Ort, an dem das Risiko des Verschwindenlassens von Kindern Jugendlichen am höchsten sei. Im Bericht wird darauf hingewiesen, dass von der Gesamtzahl der Verschwundenen 30% Kinder und Jugendliche sind, die einem indigenen Volk angehören, und dass das häufigste Alter sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen 15 Jahre ist. Es wird hervorgehoben, dass das Verschwindenlassen hauptsächlich Mädchen und weibliche Jugendliche betrifft, die 70% der Fälle ausmachen. Sie erwähnt auch, dass es sich um ein Phänomen handelt, das in den letzten zwei Jahren zugenommen hat und weiter zunimmt.
Wie Frayba und Voces Mesoamericanas, prangert Melel in Bezug auf Menschen in Mobilität an, “dass angesichts dieser alarmierenden Zahlen, wir kein Interesse der Behörden an der Untersuchung der Ursachen und Muster des Verschwindenlassens von Kindern und Jugendlichen in Chiapas feststellen”.
“Trotz der verschiedenen dokumentarischen Schwierigkeiten, wie das Fehlen zuverlässiger offizieller Informationen und das Verschweigen zahlreicher Gebiete, in denen das gewaltsame Verschwindenlassen stattfindet, konnten wir beschreiben, dass es in Chiapas verschiedene Linien oder Muster des Verschwindenlassens von Menschen gibt, die alle vom mexikanischen Staat geleugnet, versteckt und vernachlässigt werden”, so der Bericht.
“Ich tausche meine Stimme gegen meine Verschwundenen”
Am 2. Juni waren wir Zeugen des größten Wahlprozesses, den Mexiko je erlebt hat. In diesem Zusammenhang haben Kollektive von Angehörigen der Verschwundenen die Kampagne “Stimmt für einen Verschwundenen” ins Leben gerufen, mit der sie die Bevölkerung aufforderten, den Namen einer der mehr als 116.000 Verschwundenen in das für nicht registrierte Kandidat*innen vorgesehenes Feld auf dem Wahlzettel einzutragen.
Ziel war es, sie sichtbar zu machen und die Aufmerksamkeit der Behörden auf die ständige Forderung nach Gerechtigkeit zu lenken. “Wir wollen, dass sie nach ihnen suchen, das ist ihr Recht. Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Töchter, auch wenn sie nicht hier sind. Wir verdienen als Familie den Frieden, der uns genommen wurde”, erklärten Familienmitglieder, die an dieser Initiative teilnehmen.
Nach Angaben der Wahlbehörde gilt ein Stimmzettel als ungültig, wenn eines der Kästchen mit dem Namen des/der Kandidat*in oder der Partei nicht deutlich gekennzeichnet oder völlig durchgestrichen oder mit einem Slogan oder einer Forderung ausgefüllt ist. Im Gegensatz dazu werden Stimmzettel, die den Namen einer Person im Feld für nicht registrierte oder unabhängige Kandidat*innen enthalten, als gültig angesehen: “Der Unterschied besteht darin, dass die Wahlhelfer verpflichtet sind, die Namen nicht registrierter Kandidaten zu vermerken, d.h. die Namen der fehlenden Personen werden in den offiziellen Auszählungen erscheinen und somit sichtbar gemacht”, heißt es auf der Website der Kampagne.
In den sozialen Netzwerken fand die Kampagne ein großes Echo und wurde mit verschiedenen Slogans und Hashtags geteilt. “Ich tausche meine Stimme gegen meine Verschwundenen”, “#VotaXUnDesaparecidx” und “Wähle mit Würde” waren einige davon.
Am Wahltag war es nicht anders, die sozialen Netzwerke waren voll mit Fotos von Stimmzetteln mit den Namen der Verschwundenen und Botschaften wie “Heute stimme ich für die Verschwundenen. Es gibt keine Demokratie ohne sie”, “Ich tausche meine Stimme gegen die meines verschwundenen Bruders”, “Bis wir sie finden”, “Die suchenden Mütter sind keine politische Kampagne. Finder eure Kinder!”, “Ayotzinapa 43”, “Heute habe ich für euch gestimmt”, “Heute war meine Stimme für die Verschwundenen unseres Mexikos” und “Es gibt keine Demokratie, wenn sie nicht hier sind”, um nur ein paar zu nennen.
In Chiapas schlossen sich suchende Mütter der Kampagne an und protestierten auch mehrmals vor dem Regierungsgebäude in Tuxtla Gutiérrez mit Plakaten, rosa Kreuzen und Fotos ihrer Angehörigen. Sie forderten, dass die Kandidat*innen für die Regierung von Chiapas dem Problem der Verschwunden in diesem Bundesstaat Aufmerksamkeit schenken.
“Wir hoffen, dass die neue Regierung Mitgefühl hat, dass sie nicht träge ist, dass sie die Mütter empfängt, dass uns offene Türen des Gebäudes erwarten, in dem wir von den Beamten eingeschüchtert, zurückgewiesen, verletzt und erneut viktimisiert worden sind. Wir müssen mit Würde empfangen werden. Wir wollen einen grundlegenden Wandel, denn hier herrscht Korruption”, erklärten die Mütter.
Nach Angaben des Programms für vorläufige Wahlergebnisse (PREP) des Nationalen Wahlinstituts (INE) haben nach Auszählung von 95% der Wahllokale mehr als 1 Million 340 Tausend Menschen ihre Stimme ungültig gemacht, von denen 85.689 für eine*n nicht registrierten Kandidat*in gestimmt haben. Davon hat die Initiative “Stimme für einen Verschwundenen” mindestens 3.511 dieser Stimmen für Verschwundene gezählt.
Im Angesicht des Verschwindens säen wir Blumen der Hoffnung
Ein weiterer Schrei der Angehörigen von Verschwundenen in Mexiko ertönt jeden 10. Mai (am Muttertag), wenn Kollektive von Müttern von Opfern des Verschwindenlassens und des Feminizids bekräftigen, dass sie nichts zu feiern haben, weil ihnen ihre Kinder weggenommen wurden.
In Chiapas taten sie dies mit der Aktion “Blumen der Hoffnung”, mit der sie die Behörden auf allen drei Regierungsebenen aufforderten, nach ihren vermissten Angehörigen zu suchen.
“Diese Aktion mit dem Namen “Blumen der Hoffnung” reagiert auf den einfachen Grund, dass unser Leben heute der Aussaat von Hoffnung inmitten des Bösen, der Korruption, des Hasses und des mangelnden Interesses der Behörden an einer wirklichen Veränderung gewidmet ist”, sagte die Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen in Chiapas.77
In ihrem Kommuniqué erwähnen sie: “Die Situation, die wir in Mexiko und speziell im Bundesstaat Chiapas erleben, ist komplex, weil wir einerseits eine wachsende Welle des Verschwindenlassens haben, die mit einer Gewalt verbunden ist, die wir so nicht kennen. Auf der anderen Seite gibt es ein von den Behörden gut geplantes und inszeniertes Schweigen über die Realität, das die soziale und politische Krise im Bundesstaat ständig leugnet”.
Deshalb “säen wir mit unseren täglichen Protestaktionen Blumen der Hoffnung, indem wir uns mit anderen Kollektiven und Netzwerken verbinden, die Familien und suchende Mütter begleiten”.