FOKUS : Die Herausforderungen des Friedens und die Versöhnung in Chiapas
28/02/2002ZUSAMMENFASSUNG : Empfohlene Aktionen
30/08/2002AKTUELLE : Chiapas, Um einen Dialog zu ermöglichen, muss man zuhören
Sechs Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens von San Andrés bleibt dessen Durchsetzung in der Schwebe, und mit ihr die Möglichkeiten der Wiederaufnahme des Friedensprozesses zwischen dem Ejército Zapatista de Liberación Nacional und der Bundesregierung. Seit mehr als einem Jahr schweigt der EZLN aus Protest gegen die Verabschiedung der Verfassungsreform über die Rechte der Indigenas, welche auch von den Landesparlamenten der Länder mit dem höchsten Anteil von Indigenas und von den Hauptorganisationen der Indigenas abgelehnt wurde.
„Es ist keine Sünde, Indigena zu sein“
(Text von einem Plakat von demonstrierenden Indigenas vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofes des Staates)
Als Vicente Fox Präsident wurde, stellte der EZLN drei Bedingungen, um zum Verhandlungstisch zurückzukehren: Den Rückzug von sieben Militärstellungen, die Freilassung der zapatistischen Gefangenen und die Einlösung des Abkommens von San Andrés durch die Zustimmung zum Gesetzesvorschlag der COCOPA. Die erste Bedingung wird als erfüllt betrachtet, obwohl die Militarisierung in Chiapas weitergeht. Die sieben Militärstellungen wurden Anfang 2001 geschlossen
Die zapatistischen Gefangenen betreffend, bemühte sich die COCOPA im März und April bei der Exekutive und den Regierungen von Querétaro und Tabasco um die Freilassung von acht Zapatistas, die weiterhin in Haft sind, und ihre bevorstehende Freilassung wurde schon angekündigt. Aber, so Miguel Angel de los Santos, Anwalt der Gefangenen des EZLN, es gibt 17 neue Gefangene seit Antritt der Regierung
Was den polemischsten Streitpunkt angeht, die indigene Reform, könnten drei im Moment noch in der Schwebe befindliche Prozesse die politische Szenerie verändern. Erstens erwartet man das Urteil des obersten Gerichtshofes über mehr als 300 Verfassungsbeschwerden gegen das indigene Gesetz. Die Audienzen zu den einzelnen Fällen haben schon begonnen und werden wahrscheinlich zwischen dem 6. Mai und dem 15. Juni abgeschlossen sein
Die Erwartungen in diese Lösung sind sehr hoch, was bedeutet, dass das oberste juristische Organ die Entscheidung in der Hand hat, die Reform entweder zu legitimieren oder auf die Indigenas zu hören und sie zurückzuweisen. Das erwartete Urteil wird entscheidend sein für die weiteren Strategien der beteiligten Akteure, so dass es für viele ein Scheitern friedlicher und legaler Wege bedeuten könnte
Zweitens haben 168 Abgeordnete Mitte Februar das COCOPA-Gesetz noch einmal in den Bundeskongress eingebracht, „um den Fehler, ein Gesetz, das nicht den Forderungen der indigenen Völker entspricht, verabschiedet zu haben, zu korrigieren.“ Aber es scheint bei der derzeitigen Zusammensetzung des Kongresses (bis 2003) im Prinzip unmöglich, dass diese Initiative Aussicht auf Erfolg hat
Drittens ist die Entscheidung der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beschwerden von Gewerkschaften und sozialen Organisationen gegen den mexikanischen Staat, nach denen die indigene Reform gegen das Abkommen 169 über indigene Völker und Stämme verstößt, noch unklar. Im März hatte die ILO die Beschwerden entgegengenommen, und auch wenn eine Resolution, die die Reform ablehnt, keinen zwingenden Charakter hätte, so würde sie dennoch & 8211; neben einer moralischen Sanktion – deren Legitimität noch weiter in Frage stellen.
Zwei gegensätzliche Logiken
Währenddessen geht der Konflikt weiter und bewegt sich zwischen zwei Logiken, die sich mehr und mehr widersprechen: Der „Pragmatismus“ der Bundesregierung, der darauf zu setzen scheint, die fehlenden Übereinkommen durch ökonomische Programme und sekundäre Gesetze auszugleichen und die „Prinzipientreue“ des EZLN, der seinen radikalen Widerstand gegenüber jeder teilweisen Lösung aufrechterhält
Auf dem Niveau der Exekutive betonte Xochitl Gálvez, Inhaberin des Büros des Präsidenten für die Angelegenheiten der indigenen Völker, Anfang März, dass Fox auf der Verabschiedung eines indigenen Gesetzes, das näher am Entwurf der COCOPA läge, bestehe. Andererseits wurde kurz darauf ein offizieller Entwicklungsplan für die indigenen Völker präsentiert, der Schlüsselaspekte des besagten Gesetzes nicht zu berücksichtigen scheint. Im Februar betonte der Kommissar für den Frieden (von der Bundesregierung), Luis H. Alvarez, dass die Regierungsprogramme der „Schlüssel zur Lösung des Konfliktes seien“. Doch deren Durchführung ist in Chiapas problematisch. Im April bat Porfirio Encino, Sekretär für indigene Völker der Landesregierung von Chiapas, den EZLN, den sozialen Organisationen in seinem Einflussgebiet die Teilnahme an Regierungsprogrammen zu erlauben: „Wir garantieren, dass sich dahinter keine Politik der Aufstandsbekämpfung verbirgt, wir können doch nicht denen die Unterstützung versagen, die darum bitten und sie brauchen.“ Die Zapatistas wehren sich gegen diese Initiativen, setzen auf den Aufbau der Autonomie in ihren Gemeinden und kritisieren diejenigen, die die „Almosen der Regierung“ akzeptieren
Eine besonders entscheidende Zone in den letzten Monaten war das Biosphärenreservat von Montes Azules, wo sich die Gerüchte über eine bevorstehende Vertreibung der indigenen Gemeinden, die sich in dieser Schutzzone niedergelassen haben, häufen. In diesem Fall besteht der Widerspruch zwischen der Bundesregierung – repräsentiert durch den Inhaber der Bundesanwaltschaft für Umweltschutz, José Campillo – und die Regierung von Chiapas. Der Gouverneur von Chiapas beschuldigte Campillo im Mai, die gewaltsame Vertreibung der Gemeinden zu befördern und warnte, dass seine Regierung eine solche Aktion weder durchführen noch erlauben wird. Eine andere Quelle von Konfrontationen und Misstrauen zwischen der Regierung und populären Organisationen bleibt der Plan Puebla-Panama, der von Präsident Fox als Hauptvorschlag für die Entwicklung des Südens von Mexiko und von Zentralamerika präsentiert wurde. Obwohl der Plan starke soziale, abeitsmäßige und ökologische Auswirkungen auf die Bauern und die indigenen Völker, die in der Region leben, haben wird, wurden ebendiese bei seiner Ausarbeitung nicht mit einbezogen. In der Folge sprachen sich ebendiese Organisationen wiederholt gegen das Projekt aus.
Unsere tägliche Intoleranz
Diese zunehmende Schwächung der Logik des Dialoges verstärkt jeden Tag mehr die Logik der Konfrontation, und die Regierung von Chiapas kann ihr – trotz der Versuche, ihr entgegenzuwirken – nicht entfliehen. Im Bundesstaat herrscht ein Klima von sozialer, politischer und auch religiöser Intoleranz
Ende April registrierte Porfirio Encino die Existenz von Problemen in den Gemeinden in wenigstens 40 Orten der Munizipien (Kreise) Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas. Dort treffen Priistas mit Perredistas (Anhängern der PRD) oder Zapatistas aufeinander, aber auch Unterstützungsbasen des EZLN mit Organisationen, die vorher zum EZLN gehörten und sich heute der chiapanekischen Regierung zuwenden. Es gibt viele Ursachen für die Konflikte (siehe auch SIPAZ-Bericht vom Februar 2002): Die Beziehungen zu den beiden Regierungen, deren Programmen und Unterstützungen, die Konflikte um Land und um politische Macht, die ideologischen und religiösen Unterschiede… Die Kosten dieser Konflikte steigern sich immer mehr: Vertriebene, Verwundete, Entführte und sogar Tote. In der Zona Norte (Nordzone) hat sich die Spannung nach der Festnahme von Diego Vázquez, Anführer der vermutlich paramilitärischen Organisation „Desarrollo, Paz y Justicia“, verschärft. Das Netz der kommunalen VerteidigerInnen der Menschenrechte hat wiederholt Aggressionen und Drohungen gegenüber seinen MitarbeiterInnen angezeigt. Und die staatliche Kommission der Menschenrechte gab Empfehlungen für die Gewährleistung der Sicherheit seiner bedrohten Mitarbeiter heraus
Konflikte um Land und politische Hegemonie gibt es vor allem in der Zone der Selva: dort waren die Munizipien Ocosingo und Altamirano die Szenerie für ständige Zusammenstöße zwischen Priistas und Zapatistas, Zapatistas und ORCAO oder zwischen den Behörden der offiziellen Munizipien und denen der autonomen Munizipien. In einigen Munizipien im Hochland (Los Altos: Zinacantán, Oxchuc) findet die Auseinandersetzung innerhalb der kommunalen Regierung statt, da die Mehrheit die Integration der Minderheiten in die lokalen Organe nicht zulässt
Ein Thema, welches die verschiedenen Organisationen jenseits verschiedener Ideologien vereint, ist der zivile Widerstand gegen die Bundeskommission für Elektrizität, insbesondere in den Zonen Sierra, Küste, Norte und Altos. Die zivilen Organisationen protestieren gegen die hohen Kosten und verlangen einen Vorzugstarif, da Chiapas der hauptsächliche Energieproduzent des Landes und der Bundesstaat mit der größten Armut ist. In diesem feindlichen politischen und sozialen Ambiente fährt die Regierung mit ihren Bemühungen zur Entspannung fort. In den letzten Monaten wurden Verhandlungstische in einigen Zonen mit hohem Konfliktpotential eingerichtet (Munizipien Tila und Sabanilla) und es wurden Friedensabkommen unterzeichnet, an denen hohe Beamte der Regierung von Chiapas, soziale Organisationen (von Las Abejas bis zu Desarrollo, Paz y Justicia), die verschiedenen Kirchen und Sympathisanten der Zapatistas beteiligt waren
Diese Abkommen werden allerdings von denen kritisiert, die behaupten, dies seien lediglich Gelegenheitsabkommen, dass also die Konflikte wiederkehren werden, da sie keine strukturellen langfristigen Lösungen bieten. Es seien tiefe Reformen wie die des nichteingelösten Abkommens von San Andrés nötig
Übereinstimmend mit dieser Analyse, stellte Rodolfo Stavenhagen, spezieller Vermittler der UNO für Menschenrechte der indigenen Völker, nach einem Besuch in Chiapas fest, dass trotz der verschiedenen Bemühungen um eine Versöhnung auf lokaler Ebene es in diesen Dörfern „keinen endgültigen Frieden geben könne“, wenn nicht die Probleme, die mit der Zurückweisung der verabschiedeten Verfassungsreform durch den EZLN und einen großen Teil der indigenen Bewegung entstanden sind, gelöst werden
Auf der anderen Seite hat die Polarisierung, die man in Chiapas erlebt, auch zu Spannungen in den Beziehungen zwischen dem Gouverneur und den sozialen Organisationen, insbesondere für Menschenrechte, geführt. Beginnend mit der gleichen staatlichen Kommission für Menschenrechte (deren Präsident den Gouverneur für die Attentate, deren Ziel er war, verantwortlich machte), erklären das Centro Fray Bartolomé de las Casas, das Red de Defensores Comunitarios und die nordamerikanische Organisation Global Exchange die staatlichen Behörden verantwortlich für die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas.
Die Ärmsten der Ärmsten
Ende April fand im Nachbarstaat Oaxaca die Versammlung „Notfall Indigena“, zu der die Lateinamerikanische Bischofskonferenz aufgerufen hatte, statt. Dort präsentierte die mexikanische Bischofskonferenz einen Bericht, dessen Zahlen zeigen, dass die Herausforderungen weit über die Gesetzgebung hinausgehen. 96% der Indigenas in Mexiko leben in Munizipien, in denen die Marginalisierung hoch oder sehr hoch ist, und leiden an zunehmender Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen
Im Mai bestätigte Rodolfo Stavenhagen, dass Mexiko systematisch die Menschenrechte der indigenen Völker verletzt, und zeigte, dass die Lebensbedingungen der Indigenas von gravierenden Mängeln ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte gekennzeichnet sind. Bezug nehmend auf das Projekt der Deklaration der indigenen Rechte, das in der UNO diskutiert wird, sagte er, dass viele Staaten sich gegen dieses Instrument wehren, da sie die Anerkennung des Rechtes auf freie Selbstbestimmung der indigenen Völker als gefährlich erachten, denn diese führe dazu, dass die Indigenas über ihre Territorien und die Ausbeutung ihrer Ressourcen bestimmen können
Es ist so, dass ganz Lateinamerika sich gerade in einer kritischen Situation befindet. Die Anpassungsprogramme, die durch die multilateralen Organisationen auferlegt wurden, bedeuten Rezession und die Exklusion von immer größeren Teilen der Bevölkerung. Es herrscht eine soziale Unzufriedenheit, die die Situationen latenter Gewalt überdeckt
Der Gipfel von Monterrey im März hat die Auseinandersetzung um den herrschenden Neoliberalismus und die alternativen Entwicklungsmodelle wiederbelebt. Die Bischofskommission für Soziale Pastoralarbeit (katholisch) äußerte, der freie Markt sei eine „blinde Maschine“, die Ungleichheit und Exklusion institutionalisiere. Ähnliche Einwände wurden von protestantischen Organisationen wie dem Lateinamerikanischen Rat der Kirchen und dem Weltrat der Kirchen geäußert.
Die Probleme des Präsidenten
Die Suche nach Gleichgewichten zwischen den drei Mächten ist weiterhin durch ein Auseinanderdriften zwischen der Mannschaft von Fox und der Legislative gekennzeichnet. Die Agenda der Exekutive hat keinen Rückhalt im Kongress, und die Oppositionsparteien haben den Präsidenten hart für seine Außenpolitik, die sie als Unterordnung unter die USA bezeichnen, kritisiert. Fox hat es bis jetzt nicht geschafft, Allianzen, die ihm die Durchführung seiner hauptsächlichen Ziele (Steuerreform, private Investitionen in Erdölindustrie und Elektrizität etc.) erlauben würden, aufzubauen. Der Oberste Gerichtshof hat auch Urteile, die wenig vorteilhaft für den Präsidenten sind, ausgesprochen wie vor kurzem gegen Privatinvestitionen in die Elektrikindustrie
Auch in bezug auf die Menschenrechte konnte die Administration von Fox die internen Kritiken nicht abbauen – trotz der intensiven diplomatischen Bemühungen, das internationale Image aufzubessern. Im April zeigte der Sondervermittler der UNO für die Unabhängigkeit der Richter und Anwälte, Param Cumaraswamy, in seinem Bericht, dass zwischen 50 und 70% der Richter von Korruption betroffen sind. Er schrieb: „Die Straffreiheit der Korruption hat in Mexiko scheinbar nicht an Kraft verloren“, und ein großer Teil der lokalen Gerichtsbeamten bleibt weiterhin der staatlichen Regierungsmacht untergeordnet. Die Hauptinstanzen der Judikative disqualifizierten diesen Bericht
In seinem Jahresbericht 2001 schrieb das Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro, dass die Folter und Gewalt durch die Polizei auf die Regierung von Fox zurückzuführen sind und dass 48% der Repressionsfälle in den marginalisierten Zonen von Oaxaca, Guerrero und Chiapas stattfinden. Übereinstimmend präsentierte am 5. April das CNDH eine erste Nationale Diagnose der Folter, wo festgestellt wird, dass Folter bei Festnahmen weiterhin üblich ist
Ein halbes Jahr nach der Ermordung der Verteidigerin Digna Ochoa gibt es in den Ermittlungen keine echten Fortschritte, und die Hypothesen gehen – nach Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft in D.F. – „von der Möglichkeit eines Selbstmordes bis hin zu einem Staatsverbrechen.“ Währenddessen erhielt eine andere Menschenrechtsanwältin, Bárbara Zamora, im März Drohungen, und im April wurden die Polizisten, die den Schutz ihres Partners Leonel Rivero garantieren sollten, von Unbekannten angegriffen.