FOKUS : Mythos und Realität der Agrarfrage in Chiapas
28/06/2002ZUSAMMENFASSUNG: Empfohlene Aktionen
27/12/2002AKTUELLE : Zeiten der Entscheidung für den Konflikt in Chiapas
Zeitgleich mit Veröffentlichung dieses Berichtes wird die Resolution des nationalen Obersten Gerichtshofes über die im letzten Jahr verabschiedete Verfassungsreform zur indigenen Kultur und Autonomie erwartet.
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Vorlauf
Die erste Verhandlungsrunde zwischen der Regierung und der EZLN gipfelte im Februar 1996 mit den Vereinbarungen von San Andres über indigene Rechte und Kultur. Im selben Jahr entwirft die Parlamentskommission für Eintracht und Befriedung (Comisión de Concordia y Pacificación – COCOPA ) einen Vorschlag zur Verfassungsreform auf Basis dieser Vereinbarungen.
Nach vielen Wechselfällen wurde das Projekt schliesslich im Dezember 2000 durch den kürzlich ins Amt gekommenen Präsidenten Vicente Fox dem Kongress präsentiert. Im April 2001 verabschiedete der Kongress eine stark vom Originalvorschlag abweichende Verfassungreform. Sie wurde von der EZLN, den Kongressen der Bundesstaaten mit mehrheitlich indigener Bevölkerung und deren Hauptorganisationen abgelehnt. Trotz allem nahm der Reformprozess seinen Verlauf und das Gesetz wurde durch die Mehrheit der Stimmen der Bundesstaatsparlamente schließlich im August 2001 verkündet.
Mehr als 300 Eingaben oder Verfassungsbeschwerden wurden dem Obersten Gerichtshof präsentiert – ein historischer und ungewöhnlicher Akt, weil niemals zuvor eine Verfassungsreform von so vielen Seiten in Frage gestellt wurde. Nach den im Mai und Juni durchgeführten Anhörungen ist der Oberste Gerichtshof nun im Begriff sein Urteil abzugeben
Im August war der Gerichtshof noch am Analysieren, ob er überhaupt die Berechtigung hat, über Verfassungsreformen zu entscheiden. In den letzten Monaten haben viele Organisationen der Zivilgesellschaft die Verantwortung und Chance betont, welche der Oberste Gerichtshof besitzt, den Vereinbarungen von San Andres Respekt zu verschaffen, um auf diese Art zum Friedensprozess in Chiapas beizutragen. Tatsächlich ist die Erfüllung der auf Initiative der COCOPA ausgehandelten Vereinbarungen von San Andrés eine der gestellten Bedingungen der EZLN um den Dialog wiederaufzunehmen. Andere Analysten betrachten das Urteil, das der Oberste Gerichtshof zu diesem politisch hoch sensiblen Thema ergreifen wird, als einen Parameter zur Bewertung der tatsächlichen Gewaltenteilung der mexikanischen Demokratie.
Das Urteil des Obersten Gerichtshofes eröffnet zwei mögliche Szenarien: Wenn die Reform für gültig erklärt wird, würde die Anpassung der ausführenden Gesetze an den Verfassungstext beginnen. Im Falle, dass der Gerichtshof das Gesetz für ungültig erklärt, würde definiert, ab welchem Punkt der Prozess umgearbeitet werden muss: ab der Diskussion im Bundeskongress, oder ab der Abstimmung in den Bundesstaatsparlamenten oder ab der Auswertung der Resultate. Keine Option garantiert allerdings, dass die Diskussion über den Inhalt des Gesetzes wiederaufgenommen wird.
Sicher ist, dass diese Entscheidung die Akteure dahin führen wird, ihre Strategien zu überdenken. Da die Verfassungsreform die Definition von Autonomie den Bundesstaatsparlamenten zuweist, wäre es für die verschiedenen indigenen Völker des Landes komplizierter, eine gemeinsame Strategie zu formulieren. Aber es wäre immer noch möglich, sich an internationale Organisationen wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die interamerikanische Organisation für Menschenrechte oder an die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) zu wenden. Es ist jedoch bekannt, dass die Resolutionen der internationalen Organe keine Verpflichtung zur Umsetzung auf staatlicher Ebene besitzt. Auf der anderen Seite haben wir in früheren Berichten auf die Gefahr hingewiesen, dass ein negativer Gerichtsentscheid als die Ausschöpfung der legalen und friedlichen Wege angesehen werden könnte. Egal welcher Fall eintritt, die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Friedensprozesses in Chiapas ist weit entfernt. Während die EZLN weiterhin die Erfüllung der drei geforderten Bedingungen verlangt, hat man es immer noch nicht geschafft, die fünf in Tabasco und Querétaro inhaftierten zapatistischen Gefangenen frei zu bekommen, trotz Bemühungen der COCOPA.
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Eine schwierige Beziehung
Während man sich ein Ende dieser Sackgasse erhofft, bewiesen andere Tatsachen ganz klar die Konfrontation zwischen Staat und den indigenen Völkern, ausgedrückt durch Mangel an Vertrauen und Kommunikationsschwierigkeiten.
Die Regierung hat ihre Absicht kundgetan, das nationale Indigene Institut (INI) so zu verändern, dass der Entwurf, die Ausrichtung und die Überwachung der die indigenen Völker betreffenden Politiken gänzlich unter ihrer Verantwortung bleiben. Während des gesamten Monats Juli suchte man 62 indigene Völker Mexikos auf, um diese zu befragen, welcher Art von Beziehung sie zum Staat wünschen und welche Art von Reform sie sich für das INI erhoffen.
Die Befragung mit dem Titel „Indigene Völker, öffentliche Politik und Verfassungsreform“ wurde von den indigenen Hauptorganisationen abgelehnt. In der Deklaration von Waut , dem nationalen indigenen Kongress, der viele der Organisationen vereint, wird bestätigt: „Wir werden nicht eine einzige legale und institutionelle Reform akzeptieren, wenn die drei Signale für den Dialog nicht erfüllt werden.“
Selbst die Heiligsprechung des Indios Juan Diego im Rahmen des Papstbesuches in Mexiko brachte Polemiken und harte Kritiken von verschiedenen indigenen Organisationen hervor. Einige lehnten die Einladung zur Teilnahme an der Zeremonie zur Heiligsprechung mit dem Argument ab: „Diejenigen, die die Heiligsprechung Juan Diegos vorantreiben sind keine Indigenen; es sind die selben, die sich systematisch der Bewegung und dem Kampf um die legitimen Rechte der Gemeinschaften widersetzt haben.“
Eine andere heftige Konfrontation war der Konflikt zwischen der Regierung und den „Ejidatarios“ von San Salvador Atenco, die sich der Enteignung ihrer Ländereien für den Neubau des internationalen Flughafens im Bundesstaat Mexico widersetzten. Mit Unterstützung von zwölf benachbarten „Ejidos“ und anderer Sektoren der Zivilgesellschaft erreichte der organisierte Kampf der (Klein)Bauern schliesslich, dass die Regierung das Vorhaben aufgab.
Einige Analysten betrachten diesen Konflikt als eine Warnung für das, was zum Plan Puebla- Panama (PPP) passieren könnte. Der Widerstand in der Bevölkerung gegen dieses Projekt ist in den vergangenen Monaten stärker gestiegen als das Vorankommen des Planes. In Veracruz, Chiapas, Managua, und Guatemala haben sich soziale Organisationen zusammengeschlossen um wiederholt ihre kategorische Ablehnung gegenüber dem Megaprojekt und seiner funktionalen Ausrichtung auf die strategischen nordamerikanischen Interessen aufzuzeigen. Und trotz des starken sozialen und umweltorientierten Einschlags den dieser Plan haben wird: die Bevölkerung ist bei der Ausarbeitung nicht konsultiert worden.
Verschiedene religiöse und intellektuelle Kreise haben sich den Kritiken angeschlossen, so dass sich Präsident Fox und der Ex-Koordinator des PPP, Florencio Salazar, genötigt sahen zu äussern, dass nichts ohne die Zustimmung der Bevölkerung dieser Region gemacht würde. Vielleicht beinhalten diese Zugeständnisse weit entfernt von einem aufrichtigen Respekt für den Willen der Bevölkerung – eine Dosis von Realismus: Atenco bewies, dass die Durchführung von Projekten ohne die Zustimmung der Betroffenen sehr hohe soziale und politische Kosten haben kann.
Das im Juli in Chiapas realisierte Nationale Treffen für den Frieden , die Mahnung des Papstes die Rechte der indigenen Bevölkerung anzuerkennen und der Sieg von Atenco haben die Stimmung gehoben: Man spürt das stärkere Vertrauen der organisierten Zivilgesellschaft in ihre Fähigkeit, ihre Forderungen zur Geltung zu bringen.
Gefährlicher Anstieg der Gewalt in Chiapas
Dessen ungeachtet häufen sich die Anzeigen der autonomen zapatistischen Gemeinden in Chiapas über den erheblichen Anstieg der militärischen Aktivitäten in der Konfliktzone (Überflüge, Patroullien, Übergriffe der Armee gegen die Dörfer).
Auf der anderen Seite melden die zapatistischen Gemeinden, das Netzwerk der Menschenrechtsverteidiger der Gemeinden und die zivile Organisation Las Abejas das Fortbestehen von paramiltärischer Präsenz, einschliesslich der Gründung neuer Gruppierungen. Der autonome Bezirk Ricardo Flores Magón bestätigt die Neugründung der bewaffneten Gruppe Organisation zur Verteidigung der indigenen und kleinbäuerlichen Rechte (OPDIC) in Ocosingo, deren Anführer der zur Zeit amtierende Abgeordnete der PRI Pedro Chulín ist. Anscheinend ist er auch Führer der vermeintlichen paramilitärischen Gruppierung, indigene revolutionäre antizapatistische Bewegung (MIRA).
Im Juli und August wurde ein besorgniserregender Anstieg der Gewalt in den autonomen Bezirken der lakandonischen Selva registriert. Am 31.Juli zeigten die Autoritäten des autonomen Bezirkes Ricardo Flores Magón einen Überfall durch die OPDIC auf dem Ejido La Culebra mit dem Ergebnis von 7 Verletzten auf Seiten der Unterstützungsbasen. Am 7.August wurde der Zapatist José López Sántiz im autonomen Bezirk 17. de Noviembre (Altamirano) ermordet. Am 19. August kam es an der Kreuzung Quexil des autonomen Bezirkes San Manuel, an der Unterstützungsbasen der EZLN einen Wachposten unterhalten, um den Verkehr von Alkohol, gestohlenen Autos und wertvollem Holz zu unterbinden, zu einer Konfrontation mit neun Verletzten. Am 25. August wurden zwei Zapatisten und gleichzeitig Autoritäten des autonomen Bezirks Ricardo Flores Magón in der Siedlung Amaytík (Ocosingo) ermordet. Am selben Tag wurde ein weiterer Zapatist im autonomen Bezirk Olga Isabel (Chilón) getötet. Das letztgenannte Verbrechen soll das Werk einer bewaffneten Gruppierung Las Aguilares sein. In den meisten Fällen beschuldigen die Zapatisten der PRI nahestehende bewaffnete Gruppierungen. Noch während der Fertigstellung dieses Berichtes forschen die zivilen Beobachtungsbrigaden weiter zu diesen Taten.
Verschiedene Nichtregierungsorganisationen aus Chiapas melden, dass diese und andere registrierte – letztendlich gegen die autonomen zapatistischen Bezirke gerichtete – Gewalttaten ähnliche Urheber haben. Ein weiterer besorgniserregender Faktor ist die offensichtliche Verschlechterung des Zusammenlebens von zapatistischen und anderen indigenen Organisationen insbesondere in dem Gebiet der Cañadas (Selva). Häufig kommt es zu gegenseitigen Beschuldigungen zwischen den Autoritäten der autonomen Bezirke und den Führern von ORCAO, ARIC Independiente, FOS, etc.. Die Versionen über die jeweils von der anderen Gruppe begangenen Gewalttaten widersprechen sich.
Bereits vor dieser erst kürzlichen Gewalteskalierung kritisierten viele Organisationen die Bundesstaatsregierung nicht tatkräftig gehandelt zu haben. Seinerseits erklärte der Gouverneur Salazar der Internationalen Zivilen Kommission zur Menschenrechtsbeobachtung (CCIODH), dass sich seine Strategie in zwei Phasen gliedert: in der ersten sollen Politiken zur Versöhnung von Gemeinden angeregt und später die Straflosigkeit bekämpft werden.
In diesem Interview betonte der Gouverneur auch seine Aktionen zur Demontage des repressiven Apparates (mit der Verhaftung von einem Ex-Staatsanwalt und 25 Polizeichefs) als auch die gerichtliche Strafverfolgung von 88 Ex-Bürgermeistern, die Verhaftung von hohen Ex-Funktionären und die Haftbefehle wegen Korruption gegen mehr als 20 % des Kabinetts des früheren Gouverneurs.
Die Landfrage bleibt ein ständiger Spannungsfaktor. Pablo Salazar anerkennt, dass 80 % der sozialen und politischen Probleme in Chiapas mit der Agrarfrage zusammenhängen. Es existieren Brennpunkte in verschiedenen Zonen des Bundesstaates, hauptsächlich in der Selva, die meisten könnten zu Tod, Verletzung oder Entführung führen. Dazu kommt die Gefahr der Vertreibung von Gemeinden aus der Biosphäre von Montes Azules und die latente Gewalt im Gebiet von Chimalapas (Grenze zu Oaxaca).
Staatliche Institutionen erkennen an, dass ungefähr 5000 Agrarkonflikte in Mexiko existieren (362 unter ihnen mit dem Risiko von sozialen Explosionen), die hauptsächlich in Verbindung mit den indigenen Bevölkerungen stehen. Das Massaker in Agua Fría (Oaxaca) im Juni, welches 26 Tote und 42 Verletzte wegen Landkonflikten unter Gemeinden erforderte, erregte weitere Aufmerksamkeit, so dass eine Sitzung von Staatssekretären der Regierung, des Verteidigungs, Umwelt- und Naturministeriums, sowie des Ministeriums für Agrarreform und soziale Entwicklung gerechtfertigt war. Gemeinsam mit den Regierungen verschiedener Bundesstaaten wurde eine Institutionen übergreifende Strategie zur Prävention und Antwort auf mögliche Agrarkonflikte entworfen.
Trotz der Anstrengungen: Mexiko fiel in Sachen Menschenrechte durch
Mitte Juni wurden durch erste Anwendung des kürzlich verabschiedeten Gesetzes zur Transparenz die Dokumente über den Schmutzigen Krieg in Mexiko (70 und 80iger Jahre) veröffentlicht. Fox stand der Öffnung dieser besagten Archive in einer Zeremonie vor und versicherte, dass sich die Regierung auf der Suche nach der Wahrheit und der Anwendung des Gesetzes befände, aber dass es weder Platz für Vergeltung, noch Revanchismus oder Hohn geben dürfe. Die Menschenrechts-NGOs kritisieren, dass die speziell zur Erforschung dieses Zeitraumes eingerichtete Staatsanwaltschaft eine begrenzte Funktion hat, da sie ja weder Institutionen verurteilen könne noch festlegen würde, ob sich die Taten in die damalige Politik des Staates einfügten.
Ein anderes positives Signal war die Einrichtung von zwei neuen Abteilungen – eine im Staatsministerium der Regierung, das andere bei der Bundesstaatsanwaltschaft – für die Bearbeitung zu Angelegenheiten bei Menschenrechtsverletzungen, vielleicht als Ergebnis des Runden Tisches zwischen der Bundesstaatsregierung und den NGOs, die eine Menschenrechtspolitik des Staates einfordern.
Trotz dieser Fortschritte erhielt die Bundesregierung auch in den letzten Monaten weiterhin kritische Berichte sowohl von nationalen als auch internationalen Einrichtungen zu Menschenrechtsverletzungen. Im August veröffentlichte das Menschenrechtszentrum Miguel Augustín Pro seinen Bericht über Folter im ersten Halbjahr 2002, der die Folterungen von Polizisten und Militarangehörigen an 35 Personen registriert, darunter 13 an Minderjährigen und 2 von Militärs begangene Vergewaltigungen an indigenen Frauen.
Mexiko ist auch weiterhin Gegenstand von Besorgnis bei internationalen Menschenrechtseinrichtungen. Die gerade ausscheidende Hohe Kommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, der Sonderberichterstatter zu internen Vertriebenen der Vereinten Nationen, Francis Dreng, und der Präsident der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (der Organisation Amerikanischer Staaten, OAS) Juan Méndez besuchten von April bis Juni Mexiko (die beiden letztgenannten auch Chiapas).
Im Juni präsentierte Amnesty International seinen Jahresbericht 2001 in welchem Missbrauch und Ungerechtigkeiten in Mexiko dokumentiert sind. Der Abgesandte für Mexiko besuchte auch Chiapas. Durch ihn gab auch die Internationale Förderation für Menschenrechte den Bericht der Beobachtungsreise Ende 2001 über indigene Bevölkerungen bekannt. Er stufte die Verfassungsreform für die indigenen Rechte und Kultur als „im Vergleich mit dem Inhalt und dem Geist der Vereinbarungen von San Andrés Larrainzar und den Vorschriften des internationelen Abkommens 169 der ILO“ als ungenügend ein, da diese „nicht dem Ziel der Befriedung beiträgt“. Auch die Internationale Zivile Kommission zur Menschenrechtsbeobachtung (CCIODH) bereiste Mexiko und besuchte Chiapas um ihren Bericht über die zu Beginn des Jahres durchgeführte Beobachtungsreise zu präsentieren. Dort wird bestätigt, dass sich auch mit den neuen Regierungen wenig in Bezug auf die indigene Bevölkerung geändert hätte, da diese auch weiterhin die Hauptopfer von Menschenrechtsverletzungen darstellte.