SIPAZ-Aktivitäten (Juni bis August 2002)
30/08/20022002
31/12/2002AKTUELLE: Das Schweigen des Widerstandes
Nach dem Urteilsspruch des Obersten Gerichtshofes der Nation (SCJN), welcher der konstitutionellen Reform in Sachen Indígenas Gültigkeit verlieh, ist der Konflikt in Chiapas in eine neue Phase eingetreten. Neben den kritischen Reaktionen von verschiedenen Akteuren im Hinblick auf das Gerichtsurteil (siehe SIPAZ-Bericht vom August 2002), ist diese Phase vor allem vom Schweigen der EZLN dominiert.
Dieses Schweigen, welches von einigen als Nachlässigkeit interpretiert wird, wird von anderen im Rahmen der politischen Entscheidung, die es begleitet, verstanden: der Wille, sich ein eigenes Autonomieprojekt aufzubauen, mit Hilfe von Taten und hinter dem Rücken der staatlichen Institutionen, die ihre Forderungen nicht berücksichtigten. Nach Meinung von Experten haben die indigenen Völker erprobt, inwieweit sie auf die drei demokratischen Gewalten hoffen können, und haben sich jetzt einem langfristigen Prozeß zugewandt, welcher sich an der Rekonstruktion ihrer selbst, als Völker, ausrichtet (siehe Fokus). Die größte Herausforderung dieses Projektes ist die der Einheit der indigenen Bewegung.
Auch wenn man das Schweigen als Teil einer Strategie des Widerstandes verstehen kann, bemerken einige Experten, daß die EZLN wahrscheinlich auf eine Möglichkeit warten wird, um die Gesamtheit der mexikanischen Gesellschaft mit einer neuen politischen Initiative zu konfrontieren.
Währenddessen findet sich der zapatistische Widerstand inmitten von unausweichlichen Spannungen wieder. Einerseits mit offiziellen, lokalen Autoritäten und andererseits mit den ehemals verbündeten, heutzutage über territoriale und politische Kontrolle zerstrittenen Organisationen. Der Widerstand verliert auch an Kraft und bringt in einigen Fällen Austritte, bis hin zum Ausschluß derer, die die Forderungen des Widerstandes nicht akzeptieren, mit sich.
Am 17. November, pünktlich zum 19. Gründungstag der EZLN und am Tag der Präsentation der Zeitschrift „Rebeldía„, brach Subcomandante Marcos mit der Veröffentlichung eines Briefes das Schweigen. In diesem Brief disqualifiziert er die drei größten Parteien und gibt jenen eine Antwort, die behaupten, daß die Zapatisten am Ende wären. Marcos bekräftigt: „Das einzige, was bei den Zapatisten zu Ende geht, ist die Geduld“.
Die Opfer im August: Militärisches Ziel?
Vier Monate nachdem verschiedene zivile Führungspersonen in den autonomen zapatistischen Bezirken ermordet wurden (siehe SIPAZ-Bericht vom August 2002), haben die Untersuchungen immer noch kein Licht in die Angelegenheiten gebracht und die Beschuldigten sind nach wie vor flüchtig.
Dabei gibt es verschiedene Interpretationen der gewalttätigen Vorfälle im Juli und August. Laut Staatsanwaltschaft (PGJE) gab es keine klare Verbindung zwischen den Morden, die verschiedenen Motiven gehorcht hätten, welche sich aus Konflikten der Gemeinschaft herleiteten würden. Für einige Experten, die der chiapanekischen Regierung nahe stehen, handelt es sich um Aktionen des lokalen PRIismus, der im Hinblick auf die im Jahr 2003 anstehenden Parlamentswahlen die Regierung Pablo Salazar destabilisieren will, um politischen Raum zurückzugewinnen.
Soziale und oppositionelle Organisationen neigten zuerst dazu, die Ereignisse im Rahmen der Strategie der Bundesregierung zu erklären, ansässige Gemeinden aus der begehrten und fruchtbaren Zone der Biosphäre „Montes Azules“ zu vertreiben. Später kamen viele überein, daß die Angriffe auf die Zapatisten, sowie die Zunahme der militärischen Präsenz einige Tage zuvor, dazu bestimmt waren, kurz vor dem Urteilsspruch des Obersten Gerichtshofes (welcher sich da schon abzeichnete), die Absichten einer militärischen Antwort der EZLN auszuloten.
Unabhängig davon, ob alle Taten einer geplanten politischen Strategie folgten oder nicht, stehen sie unbestreitbar im Kontext der hohen Anspannung. Sie sind Produkt eines Konfliktes, der nicht vorwärtskommt und sich auch nicht löst, und führen dazu, die Aktionen gemäß einer Kriegslogik zu interpretieren. Einen Monat vor dem fünften Jahrestag des Massakers von Acteal (22.12.1997) wurden 19 Tzotziles zu 36 Jahren Gefängnis verurteilt, und es wird erwartet, daß 12 weitere Beschuldigte eine gleiche Strafe erhalten. Das Menschenrechtszentrum „Fray Bartolomé de las Casas“ (CDHFBC) besteht auf der Notwendigkeit, die Untersuchungen zu vertiefen, um die intellektuellen Verantwortlichen des Massakers ausfindig zu machen. Das schließt hohe Funktionäre der Regierung von Chiapas aus dieser Epoche und Militär- und Polizeikörperschaften, als vermeintliche Komplizen der selbigen, ein.
Im Bezirk von San Juan Chamula wurden neue gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Evangelisten und traditionellen Katholiken registriert. Am 14. November gerieten 14 Katholiken der Gemeinde Tzeteltón in einen Hinterhalt und wurden durch Kugelschüsse verletzt. Die Staatsanwaltschaft, die diese Tatbestände untersucht, bestätigt, daß es sich eher um Streitigkeiten zwischen Kaziken um politische Kontrolle als um religiöse Intoleranz handelt.
Trotz dieses Klimas der Anspannung und Konflikte wiederholte Präsident Fox auf seiner letzten Europareise, daß es in Chiapas und mit den Zapatisten Frieden gäbe, was allgemein Kritik in der Opposition hervorrief.
Paz y Justicia: Festnahmen und Spaltungen
Die Ereignisse im August eröffneten erneut die Debatte über die Existenz von paramilitärischen Gruppen in Chiapas. Von den Zapatisten und anderen Gruppen in der Opposition wird der Begriff „Paramilitär“ im weitläufigen Sinne für bewaffnete Gruppen verwendet, die sich gegen die EZLN wenden. Der Gouverneur Salazar hingegen besteht darauf, daß es sich bei den bewaffneten Gruppen, die in Chiapas agieren, genau genommen nicht um Paramilitärs handeln würde, da sie keine Unterstützung durch staatliche Institutionen erhielten (wie es unter der vorangegangenen Regierung der Fall war). Menschenrechtsverteidiger hingegen bestehen darauf, daß es sehr wohl solche Zusammenhänge zwischen diesen Gruppen, einigen lokalen PRIistischen Kaziken (welche die Rathäuser kontrollieren), dem Militär und Sicherheitskräften gibt. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einer Gruppe, die durch die Abkürzung „OPDIC“ bekannt ist und in Kontakt mit dem Abgeordneten Pedro Chulín steht, oder bei „Los Aguilares„, einer Bande von Straftätern und Söldnern.
Kritiker bestätigen ebenfalls, daß die Bundesanwaltschaft (PGR) keinen Willen gezeigt hat, sich näher mit der Untersuchung und Verfolgung der genannten Gruppen zu beschäftigen. Genau genommen gehen die Maßnahmen, die dazu führten, daß einige Mitglieder dieser Gruppen verhaftet wurden, nicht auf die Initiative des Bundes, sondern auf die des Staates von Chiapas zurück. Diese Kritik bestätigend, wurde Mitte November die Auflösung der Gruppe „Unidad Especializada para la Atención de Delitos Cometidos por Probables Grupos Armados (Spezialeinheit zur Klärung von Delikten, welche durch wahrscheinliche, bewaffnete Zivilgruppen begangen wurden) (1997 nach dem Massaker von Acteal gegründet und abhängig von der Bundesanwaltschaft) bekanntgegeben. Und das auch nachdem das Menschenrechtszentrum „Fray Bartolomé de las Casas“ (CDHFBC) bestätigt hat: „Das schwerwiegende Problem der Paramilitärs ist noch nicht gelöst und die Wahrheit ist immer noch nicht bekannt“.
Andererseits wurden Mitte September in Tila 27 Mitglieder der bewaffneten Gruppe Desarrollo, Paz y Justicia („Entwicklung, Frieden und Gerechtigkeit“, DPJ), einschließlich ihres Anführers Sabelino Torres, auf Anweisung der chiapanekischen Staatsanwaltschaft festgenommen, unter dem Vorwurf, die Hauptverantwortlichen verschiedener Verbrechen zu sein: Raub, Entführung, illegaler Besitz von Waffen, die ausschließlich das Militär benutzen darf, sowie Körperverletzung und Mord. Unter den Festgenommenen befindet sich Carlos Torres, ehemaliger Bezirkspräsident von Tila, dem vorgeworfen wird, Bezirksgelder an die bewaffnete Organisation abgezweigt zu haben.
Diese Festnahmen, die zu der des Anführers Diego Vasquez im Februar hinzukommen, könnten das Ende von DPJ bedeuten, zumindest in ihrer alten Zusammensetzung. Außerdem zerfällt die Gruppe aufgrund innerer Spaltungen. Die erste Abspaltung gründete im Jahr 2000 die Union Indigener Land- und Forstwirtschaftlicher Gemeinden (UCIAF), die hauptsächlich im Bezirk Sabanilla vertreten ist; und kürzlich spaltete sich die Gruppe Regionale Union Bäuerlicher und Indigener Gemeinden (URCCI) ab, die aus dem legalen Sektor der Organisation besteht, welcher Wirtschaftsprogramme der Regierung verwaltet.
Globalisierung des Widerstandes
Wie es vereinbart worden war, gab es am 12. Oktober in mehreren mexikanischen Bundesstaaten Mobilisierungen. In Chiapas blockierten Netzwerke der zapatistischen Zivilgesellschaft, soziale, indigene und Bauern- Organisationen Straßen, schlossen Grenzen, demonstrierten und drückten in unterschiedlichen Formen ihre Ablehnung der indigenen Verfassungsreform, der Wirtschaftspolitik der Regierung, des Plan Puebla-Panama (PPP) und des (gesamt)amerikanischen Freihandelsabkommens (ALCA) aus. Die Proteste fanden auch in einigen anderen Ländern Zentralamerikas statt.
Vom 9.-12. Oktober fand das erste „chiapanekische Treffen gegen Neoliberalismus“ statt. Es wurde von den bekannten NGO’s und sozialen Organisationen aus Chiapas mit dem Ziel einberufen, einen gemeinsamen Aktionsplan zu folgenden 11 Themen zu erarbeiten: eigene Kontrolle der Ernährung, fairer Handel, Land, Maquiladoras, Migration, PPP, ALCA, indigene Rechte und Autonomie, Militarisierung, etc.
Am 12. Oktober begann in Mexiko auch die „nationale Befragung gegen das ALCA„, die im März 2003 endet. Diese Befragung ist Teil einer kontinentalen Kampagne gegen die Umsetzung dieses von den USA angestoßenen Abkommens. In Chiapas ist diese Befragung mit Enthusiasmus von den Organisationen und zivilen Netzwerken aufgenommen worden.
Unterdessen mehren sich an verschiedenen Orten des Bundesstaates Aktionen gegen den Bau von ungefähr zehn Wasserkraftwerken im Rahmen des PPP. Die Staudämme hätten starke negative Auswirkungen auf die Umwelt und das soziale Leben. Parallel dazu dauern die Mobilisierungen der chiapanekischen Bevölkerung gegen die hohen Stromtarife der staatlichen Stromkommission an.
Diese Dynamik des Widerstandes in Chiapas reiht sich in die regionale und kontinentale Bewegung des Kampfes gegen ein „Entwicklungs“-Modell ein, das offensichtlich der Bevölkerung keinen Nutzen bringt. In diesem Kampf üben die indigenen Völker eine wachsende Vorreiterrolle aus, da sie das dominante Modell der Globalisierung nicht nur als Bedrohung ihrer Identität und ihrer Formen sozialer Organisation ansehen, sondern als Bedrohung ihrer Existenz als Völker.
Wie es scheint, ist man mit dem PPP in eine Sackgasse geraten nach der Entscheidung der Regierung, das Projekt herunterzufahren und dem Außenministerium zu unterstellen. Trotzdem bestätigen Kritiker, daß vorgesehene Arbeiten – im Namen des PPP oder ohne diese Bezeichnung – schon begonnen wurden und die negativen Auswirkungen haben werden, die man vorhersagt.
Auf jeden Fall führt der Mangel an Information und Transparenz in den Verhandlungen zum PPP oder ALCA zu ausgeprägtem Mißtrauen und Ablehnung in der Bevölkerung. Und läßt ahnen, welches die in naher Zukunft vorherrschenden Konfliktlinien in Chiapas – und der Region – sein werden.
Übergang oder Unregierbarkeit?
Zur Eröffnung der neuen Sitzungsperiode des Parlaments Anfang September präsentierte Präsident Fox vor einem feindseligen Kongreß und einer jeden Tag kritischeren und über die mageren Ergebnisse des Übergangs unbefriedigten Öffentlichkeit seinen zweiten Regierungsbericht.
Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten waren eines der Hauptmotive der Gereiztheit der Opposition. PRI und PRD beschuldigen die Regierung, die entgegenkommenste mexikanische Regierung gegenüber der USA zu sein. Die Kritik konzentriert sich auf die Figur des Kanzlers Castañeda, der beschuldigt wird, die historisch engen Beziehungen zu Kuba an den Rand des Abbruchs der diplomatischen Beziehung geführt zu haben.
Einige Analytiker sprachen bereits von „Unregierbarkeit„, die Vielfalt der gleichzeitigen Fronten in Betracht ziehend, und der Unfähigkeit der Fox’schen Verwaltung, diese wirksam aufzugreifen und zu lösen.
Neben dem wachsenden Widerstand der mexikanischen Stromerzeugergewerkschaft gegen den Vorschlag einer Verfassungsreform zur Legalisierung von Privatinvestitionen im Stromsektor, mußte sich Fox mit einer weiteren mächtigen Gewerkschaft konfrontieren: der der Erdölarbeiter. Diese drohten das Land lahm zu legen, falls ihre Gehaltsforderungen nicht erhört würden. Der Grundkonflikt jedoch war die juristische Untersuchung über 640 Millionen Pesos, die auf dem Weg vom staatlichen Unternehmen PEMEX an diese Gewerkschaft verschwanden. Sie wurden letztendlich für die Wahlkampfkampagne des PRIista Francisco Labastida im Jahr 2000 eingesetzt.
Das so genannte PEMEXgate stellte sich jedoch als Bumerang für den Präsidenten heraus und warf ihn auf seinen eigenen Wahlkampfskandal zurück – hervorgerufen durch die vom staatlichen Wahlinstitut initiierte Untersuchung (die immer noch nicht abgeschlossen ist) zu den vermutlich illegalen Herkünften der Millionenbeträge, die im Wahlkampf durch die Gruppe „Freunde von Fox“ verwendet wurden.
Ein anderer Spannungsfaktor ist die begonnene Debatte über den Gesamthaushalt 2003. Die Opposition und die nationale Konferenz der Gouverneure haben die Regierung für die vorgesehenen Kürzungen im Sozialbereich und der Zahlungen an die Bundesstaaten scharf kritisiert.
Die Zivilgesellschaft ihrerseits organisiert sich gegen die Wirtschaftspolitik: Mitte November konstituierte sich die „mexikanische Gewerkschaftsfront zum Widerstand gegen Arbeitsreformen und Privatisierung“, und ein breites Spektrum von sozialen Organisationen kündigte die Gründung einer „Einheitsfront des Kampfes gegen neoliberale Politik“ an.
Sturm am Horizont
Zwei unmittelbar bevorstehende Gefahren können dieses komplizierte Szenario noch verschärfen. Einerseits werden Anfang 2003 die Handelsschranken für Nahrungsmittelprodukte unter den Handelspartnern des nordamerikanischen Freihandelsabkommens (TLC oder NAFTA) fallen. Die Produzenten- und Bauernverbände haben bereits verkündet, daß diese Maßnahme für die bereits angeschlagene Situation der mexikanischen Landwirtschaft den Ruin bedeuten würde, da diese nicht in der Lage ist, mit der subventionierten Produktion aus dem Norden zu konkurrieren. Auch wenn die Regierung Maßnahmen zur Abdämpfung der negativen Folgen angekündigt hat, sind die Prognosen reichlich pessimistisch.
Andererseits kann die Untersuchung der Periode des „schmutzigen Krieges“ (70er und 80er Jahre), durch eine von der Regierung ernannte Spezialstaatsanwaltschaft das Ende der Straflosigkeit der beiden unter dem vorherigen Regime traditionell unberührbaren und heute in Frage gestellten Institutionen bedeuten: der Streitkräfte und der PRI.
Die Strategie des Militärs scheint auf die Säuberung ihres Erscheinungsbildes zu zielen. Denn genau zu dem Zeitpunkt, als ein komplettes Bataillon im Norden Mexikos wegen Verbindungen zum Drogenhandel aufgelöst wurde, verurteilte das Militär die beiden Generäle Acosta Chaparro und Quirós Hermosillo, die beide seit zwei Jahren wegen Verbindungen zum Drogenhandel in Haft sind.
Außerdem müssen die beiden Generäle sich demnächst mit Urteilen zu den Morden an 143 Personen in Guerrero während des „schmutzigen Krieges“ konfrontieren. Obwohl sich die Anklagen auf die dokumentierten Anzeigen der nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) beziehen und diese der Sonderstaatsanwaltschaft eingereicht wurden, hat die oberste Militärjustizbehörde die Zuständigkeit der Untersuchungen an sich gezogen. Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen übten Kritik daran, da die Militärjustiz keine Garantie für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährt und sie schon immer eine Quelle der Straflosigkeit für vom Militär begangene Verbrechen darstellte.
Im Oktober jährte sich zum ersten Mal der Tag der Ermordung der Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa, ohne daß es zu einer Aufklärung des Falles gekommen ist.