2008
02/01/2009ANALYSE : Mexiko, Von der Schweinegrippe und anderen Leiden
31/08/2009Am 10. Februar dieses Jahres wurde Mexiko von den Vereinten Nationen (VN) in Form eines seit 2006 in Kraft getretenen Mechanismus, des sogenannten „Examen Periódico Universal“ (EPU), evaluiert. Alle 4 Jahre soll sich jeder Mitgliedsstaat einem „interaktiven Dialog“ stellen, um dadurch zu analysieren ob diese den von ihnen unterzeichneten internationalen Verpflichtungen in Sachen Menschenrechte Folge leisten.
In diesem Fall wurde Mexiko Kommentaren und Kritiken durch eine Gruppe von drei Ländern und den VN-Mitgliedsstaaten, die beim EPU-Verfahren vertreten waren, unterzogen. Zuvor wurden dem Menschenrechtsrat der VN drei Berichte vorgelegt: einer von der mexikanischen Regierung, ein weiterer vom Büro des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen (OACNUDH), und ein letzter, der auf der Basis von Informationen der Zivilgesellschaft ausgearbeitet wurde, für dessen Zusammenstellung das OACNUDH verantwortlich war. Etwa hundert mexikanische und 7 internationale Nichtregierungsorganisationen (NRO) klagten an, dass „Mexiko seine internationalen Pflichten nicht erfülle“. Folter, gewaltsames Verschwindenlassen, außergerichtliche Hinrichtungen, Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Straflosigkeit dauern an. Der Bericht umfasste 60 Fälle von Kriminalisierung sozialer Proteste in 17 Bundesstaaten Mexikos, einschließlich Chiapas, Guerrero und Oaxaca.
Als Endergebnis richtete das EPU 91 Empfehlungen an den mexikanischen Staat, von denen Mexio 83 annahm und 8 gegenüber Vorbehalte äußerte. Das Paket der angenommenen Empfehlungen hat mit der Anpassung der internen Gesetze zu tun, damit sie den vom Staat unterschriebenen internationalen Verpflichtungen entsprechen. Die acht Empfehlungen, denen gegenüber Mexiko Vorbehalte äußerte und die laut der Regierung eine „ausführlichere interministerielle Analyse benötigen“, umfassen viele Kritiken, die von Organisationen der Zivilgesellschaft in ihrem Bericht vorgelegt wurden: so z.B. die Straflosigkeit und die Mechanismen, die angewendet werden müssten, um diese zu bekämpfen (besonders bei Themen wie Gender, indigene Völker, Minderjährige und Journalisten), oder auch Themen wie die Immunität der Angehörigen der Armee, die Rechtsfigur des Arrests und die Definition des Begriffs „organisierte Kriminalität“.
Die Justizreform: Eine „kulturelle Veränderung“ zugunsten der Legalität?
Viele der Empfehlungen des EPU konzentrieren sich auf das mexikanische Justizsystem. Seit langer Zeit verlangt die mexikanische Zivilgesellschaft tiefgehende Reformen des Strafrechts. Die Justizreform, die letztendlich vom Senat am 6.März 2008 verabschiedet wurde, versucht zwei widersprüchliche Tendenzen zu integrieren: Auf der einen Seite unterstützt sie Fortschritte in Sachen Menschenrechte mit der Einführung der Urteilsverkündung in Anwesenheit der Angeklagten und der Änderung des Angeklageverfahrens (hin zum Prinzip der Unschuldsvermutung bis zum Nachweis einer Straftat). Auf der anderen Seite bedeutet sie einen Rückschritt, da Strafen eingeführt werden, mit denen vorgegeben wird, der Sorge um die öffentlichen Sicherheit im Lande zu begegnen.
Angesichts der Unsicherheit, die durch die organisierte Kriminalität und den Drogenhandel geschaffen werden, hat die Regierung Calderón besondere Betonung auf ‚Recht und Ordnung‘ gelegt. Damit rücken Themen wie die Respektierung der Menschenrechte oder das Problem der Straflosigkeit in den Hintergrund, beides aber sind Schlüsselbereiche im Kampf gegen das Verbrechen.
Im ersten Entwurf des Vorschlags waren die umstrittensten Punkte: die Einführung von Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung; die Erweiterung der Rechtsfigur des ‚arraigo‚ (Arrest an unbekanntem Ort mit dem Ziel, erste Beweise für eine Straftat der betroffenen Person zu finden und ihre Flucht zu verhindern; Anm. d. Übers.); das Subsystem der Ausnahme für Personen, die angeklagt werden, dem „organisierten Verbrechen“ anzugehören; und die Existenz von Verbrechen, die zu keiner Haftentlassung führen können. Sowohl mexikanische Menschenrechtsorganisationen als auch die Inter-Amerikanische Kommission für Menschenrechte (IAKMR) und mehrere Sonderbeauftragte der VN erklärten schon vor der Gesetzesannahme ihre Besorgnis „wegen der Aspekte der Reform, welche die Menschenrechte gefährden“.
Im Gesetzesentwurf der Strafrechtsreform, der vom Gesetzgeber letztendlich verabschiedet wurde, sind die Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Befehl wieder gestrichen worden. Das Ergebnis wurde von der mexikanischen Regierung als ein „kultureller Wandel“ zum Vorteil der Legalität bezeichnet. Trotzdem wird sie von einigen als „Frankenstein-Reform“ bezeichnet, da sie auf der einen Seite Verbesserungen des Justizsystems, zur gleichen Zeit aber repressive Mittel (wie den Fall des ‚arraigo‚ oder die Polemik über „organisiertes Verbrechen“) beinhaltet. Andere, wie die Senatorin Rosario Ibarra (Präsidentin des Eureka-Komitees, die seit Jahrzehnten zum Thema Verschwindenlassen arbeitet), gingen noch weiter, indem sie die Reform „Gestapo-Gesetz“ nannten.
Zweispurige Rechtssprechung und das verschärfte Risiko der Kriminalisierung sozialer Proteste
Die im EPU ausgesprochenen Empfehlungen beziehen sich insbesondere auf die neuen Regeln um die Figur des ‚arraigo‚ (Erklärung siehe oben; Anm. d. Übers.) und des organisierten Verbrechens. Die häufigste Kritik hat zu tun damit, dass ein zweispuriges System der Rechtssprechung aufgebaut wurde: eine Spur für allgemeine Kriminalität und eine andere für organisiertes Verbrechen. Die Reform soll im Zeitraum von acht Jahren umgesetzt werden. In dieser begrenzten Zeit soll sie in allen Bundesstaaten eingeführt worden sein. Es existieren ernsthafte Bedenken gegenüber der Respektierung der Unschuldsvermutung in Fällen mit Bezug auf „organisiertes Verbrechen“. Laut einer auf den Menschenrechten basierenden Logik sollte aber genau bei den schweren Verbrechen höchster Respekt der Garantien im Prozess eine gerechte Rechtsprechung sichern.
Ein großes Hindernis für das Justizsystem ist die Definition des „organisierten Verbrechens“ und das Kriterium, auf wen es angewandt werden kann. In der Definition laut Artikel 16 „wird als organisiertes Verbrechen eine Organisation von 3 oder mehr Personen verstanden, die gemeinsam permanent oder vereinzelt Verbrechen begehen, die als solche im Gesetz verankert sind“. Viele Organisationen und soziale Bewegungen befürchten, dass dieser Artikel gegen soziale Kämpfe eingesetzt werden könnte, da die Gesetzgeber nicht spezifizieren, welche Art von Verhalten ein Verbrechen darstellt. Die Schaffung dieser „Ausnahmeregelung“ verletzt die Grundprinzipien der Gleichheit vor dem Gesetz, zudem öffnet sie der Willkür des Staates die Türen, der dies zur Repression der Oppositionsbewegungen nutzen könnte. Laut dem Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas könnte es, „wenn es in der Verfassung eine so laxe Hypothese bleibt, in welchem Fall es sich um organisiertes Verbrechen handelt, schwere Konsequenzen geben, denn es sei dann recht einfach, die weiterführenden Gesetze so zu modifizieren und einfache Verbrechen aufzuführen, die die nationale Sicherheit in Gefahr bringen.“
Menschenrechtszentren in Guerrero beklagten, dass „der Verlust individueller und sozialer Garantien, wie er sich im Rahmen des Kampfes gegen den Drogenhandel zeigt, eine Neuigkeit ist, die Menschenrechtsverteidiger und soziale Kämpfer bedroht, und außerdem das Justizsystem und die Mechanismen des Menschenrechtsschutzes in eine Krise treibt“. Der Staat habe „die Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidigern in Gang gesetzt durch Delegitimierung; Herabsetzung; Verfolgung derjenigen, die das normative System nutzen; die Konstruktion von Straftaten und die Unterlassung in Fällen von Missbrauch, unter denen die Menschenrechtsverteidiger leiden“. Allein in den letzten Monaten hat die Zahl der Strafverfahren gegen Anführer sozialer Bewegungen im ganzen Land alarmierend zugenommen. Dies kommt zusammen mit besorgniserregenden Vorkommnissen schon vor der Verabschiedung dieses Gesetzes, – wie z.B. in Oaxaca und Atenco- wo Mitgliedern sozialer Bewegungen formal wegen Entführung, einer Entführung gleichkommenden Handlung, Straßenblockaden und Aufruhr angeklagt werden.
‚Arraigo‚ und das Risiko der Folter
Eine weitere Befürchtung, die MenschenrechtsverteidigerInnen im Rahmen der Gefängnisreform und der „Kriminalisierung sozialer Proteste“ äußern, hat mit dem ‚arraigo‚ zu tun, einer juristischen Figur, die auf föderaler Ebene eingeführt wurde mit dem Ziel, das organisierter Verbrechen zu bekämpfen.
Der ‚arraigo‚ ist eine Vorsorgemaßnahme, die in zahlreichen Strafgesetzbüchern Lateinamerikas existiert. Daher wurde dies auch als demokratisches Instrument vorgeschlagen, das von der Staatsanwaltschaft während einer Ermittlung in Fällen genutzt werden kann, wo während der Ermittlung gegen den Verdächtigen Fluchtgefahr besteht. Das Verfahren besteht darin, dass ein Richter dem Verdächtigen „Hausarrest“ auferlegt, während sein Fall bearbeitet wird: Die Person wird überwacht und bleibt in ihrem Haus ohne Erlaubnis, dieses zu verlassen, bis alle Ermittlungen abgeschlossen sind. Früher war die Höchstzeit des Arrestes 40 Tage, mit der Reform wurde sie auf 80 Tage erhöht (in anderen Ländern kann Hausarrest maximal für zwei bis sieben Tage verhängt werden).
Der ‚arraigo‚ hat in Mexiko eine ganz besondere Anwendung: Generell wird er nicht als Hausarrest vollstreckt, sondern in den sogenannten „casas de arraigo“, die von der Generalstaatsanwaltschaft (PGR) geführt werden. Diese Orte können Hotels, Freibäder oder geheime Gebäudes sein. Obwohl die Akte rechtlich in Händen des Richters ist, bleibt die betroffene Person unter der „Fürsorge“ der Staatsanwaltschaft. Dies ermöglicht der Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei natürlich eine viel stärkere Kontrolle über den Verdächtigen.
Das Besorgniserregendste an der Figur des ‚arraigo‚ ist, dass er anstelle einer Maßnahme zur Suche nach Anhaltspunkten für ein Verbrechen dazu benutzt wird, Druck auf die verdächtige Person auszuüben und ein Geständnis zu erzwingen. Viele der in Menschenrechtszentren vorgebrachten Fälle bringen die „casas de arraigo“ mit Folterpraxis in Verbindung, und es wird befürchtet, dass dieses Mittel zunehmend gegen Demonstranten und sozialen Bewegungen angewendet wird.
Militärrecht: die große Leerstelle der Strafrechtsreform
Das Militärrecht, nicht unter ziviler Kontrolle, ist ein weiterer Aspekt, der als ein Brennpunkt in den Empfehlungen des EPU auftaucht. Und man muss erinnern, dass dies ein Punkt konstanter Kritik und Empfehlungen an den mexikanischen Staat seitens der Menschenrechtsorganisationen ist.
Über das Jahr 2008 haben einige Menschenrechtsorganisationen die Notwendigkeit betont, dass das Militärrecht ausschließlich auf die Verurteilung der Angehörigen des Militärs für begangene Vergehen gegen ihre militärische Funktion zu begrenzen, ohne sich „auf die Untersuchung und Gerichtsverfahren zu Menschenrechtsverletzungen zu erweitern„. Im vergangenen Jahr hat das Menschenrechtszentrum „Miguel Agustín Pro Juárez“ (Prodh) 120 Fälle des Missbrauchs durch Angehörige der mexikanischen Streitkräften registriert. Dazu gehören illegale Hausdurchsuchungen, physische Angriffe, Folter und willkürliche Verhaftungen. Guerrero wird als der in diesem Sinne am stärksten betroffenste Bundesstaat hervorgehoben. Die NGOs drängen auf die Notwendigkeit ziviler Kontrolle über das Heer und man wartet auf die Antwort des Obersten Gerichtshofes der Nation, der sich zu der Frage des Kriegssonderrechtes in Fällen, in denen Zivilisten Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden, äußern soll. Luis Arriaga, Direktor des Menschenrechtszentrums Prodh, hat aufgezeigt, dass die Ausdehnung des Kriegsvorrechtes in diesen Fällen „die Straflosigkeit aufrecht erhält und die zivile Kontrolle unterhöhlt, die sich in jeder Demokratie über die militärischen Institutionen durchsetzen müsste“.
Wie geht es weiter?
Jenseits der selbst gesteckten Ziele, die die Reform beinhaltet, wird ihre Umsetzung keine geringere Herausforderung sein. In seinem Bericht 2008 hebt Human Rights Watch die „zwei Gesichter“ des mexikanischen Staates hervor, der vielfältige internationale Verträge für die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte unterzeichnet hat und eine starke Präsenz in den internationalen Plattformen in dieser Materie zeigt. Jedoch scheinen dieselben Verträge nicht mehr als gute Vorsätze zu sein, wenn es um ihre Anwendung im eigenen Land geht. Auch wenn die Strafreform als Fortschritt oder sogar als Beginn einer „kulturellen Änderung“ angesehen wird, wird sich zeigen müssen, wie weit dies in die Realität umgesetzt werden kann.
Eine letzte Besorgnis ist mit der Fähigkeit verbunden, die die sozialen Bewegungen und die zivilen Organisationen haben können, um als Gegengewicht zu den repressiven Tendenzen des Staates zu wirken. Oder ob das organisierte Verbrechen, das Tausende von Toten jedes Jahr fordert, dem Staat als Entschuldigung dient, mit dem Einverständnis der internationalen Gemeinschaft in Besorgnis um das Thema der Sicherheit, strafbare repressive Verfahren und Menschenrechtsverletzungen zu legalisieren.