SIPAZ: Sonderbericht über die Situation in der neuen Siedlung „Comandante Abel“, Sabanilla, nördliche Zone von Chiapas
25/09/2012SCHWERPUNKT : Folter in Mexiko, Eine Methode, das Töten und Wiederbeleben vorzutäuschen
28/11/2012Ohne größere Überraschung bekam Enrique Peña Nieto (EPN), Kandidat der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM), am 31. August 2012 die juristische Bestätigung der Stimmenmehrheit, die ihn zum gewählten Präsidenten bestimmt, nachdem das Wahltribunal (TEPJF) die Wahlen vom 1. Juli für gültig erklärt hatte. Viel überraschender war, dass das Wahltribunal einstimmig die Beschwerden der linken Koalition zurückwies, die diese anbrachte, um die Wahlen für ungültig zu erklären, wenn wir uns das Verhalten des Wahltribunals bei den Wahlen von 2006 in Erinnerung rufen. Die Progressive Bewegung hatte 359 Anfechtungen eingereicht, welche sich auf die überzogenen Ausgaben des Wahlkampfes der PRI bezogen. Auch die frühzeitige Werbung für die Kandidatur von EPN im Fernsehkanal Televisa sowie der Kauf und die Erzwingung von Wählerstimmen wurden beanstandet. Laut einer Umfrage von Covarrubias glauben nur 37% der Bevölkerung an einen „sauberen Sieg“ von EPN in diesen Wahlen.
Sowohl die Progressive Bewegung, angeführt von Andrés Manuel López Obrador (AMLO, Präsidentschaftskandidat der linken Parteien bei den Wahlen im Juli), als auch soziale Bewegungen und zivile Organisationen wiesen das Urteil des Gerichts zurück. Tausende gingen in Mexiko-Stadt auf die Straße und protestierten vor dem Sitz des TEPJF. AMLO berief eine Versammlung für den 9. September auf dem Zócalo ein, in der er erneut zurückwies, nicht gewonnen zu haben. Außerdem gab er seinen Rückzug aus der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) bekannt und rief dazu auf, eine Entscheidung im Hinblick auf eine Umwandlung der Bewegung der Nationalen Regeneration (Morena) in eine neue Partei zu fällen. Währenddessen bezog die PRD „eine respektierende Position gegenüber dem Gesetz und dem Rechtsstaat“. Zuvor, am 22. und 23. September organisierten 280 Organisationen und Kollektive aus 20 Bundesstaaten, inklusive der Jugendbewegung #YoSoy132, eine „Zweite Nationale Konvention gegen die Einsetzung“ (von EPN als Präsident, Anm. der Übers.) in Oaxaca-Stadt. Hier diskutierten sie einen Aktionsplan, um den Antritt von Enrique Peña Nieto am 1. Dezember als Präsident zu verhindern.
Seinerseits, und ohne auf die Kritik einzugehen, bestimmte Enrique Peña Nieto Anfang September sein Übergangsteam, welches Vorschläge und Aktionen erarbeitete, die er nach seiner Amtsübernahme auf den Weg bringen will. Er selbst machte einige Auslandsreisen in verschiedene Länder Lateinamerikas und Europas.
Sechster und letzter Bericht von Felipe Calderón
Eine andere Mobilisationsfront gab es im Zuge des sechsten und letzten Berichtes der Regierung von Felipe Calderón. Die Bewegung #YoSoy132 präsentierte einen „Gegenbericht„, in welchem sie urteilte: „sechs Jahre, in denen wir Jahr für Jahr einen feigen Präsidenten sahen, der von Mut sprach, während wir, die Gesellschaft, die Toten, die Vertriebenen, die Entführten und die Misshandelten durch die Behörden stellten“. Während einer öffentlichen Veranstaltung versicherte Calderón, dass sein Handeln „humanistisch“ gewesen sei. Mit besonderem Nachdruck betonte er seine Fortschritte im Kampf gegen die Kriminalität, hervorhebend, dass er „besonders in der Einschränkung und Bekämpfung des organisierten Verbrechens große Fortschritte gemacht hätte“.
Kurz vor dem eigentlichen Bericht zog Amnesty International eine harte Bilanz der Amtszeit für die Bereiche Sicherheit und Menschenrechte: „Die Regierung von Felipe Calderón hat eine Politik der öffentlichen Sicherheit angekurbelt, um den Gruppen des organisierten Verbrechens militärisch entgegenzutreten, was die Gewalt in einigen Regionen des Landes sehr verstärkte, ohne eine Strategie oder Kapazitäten haben, um sie zu stoppen und der betroffenen Bevölkerung Sicherheit zu garantieren. Diese Politik baute auf den massiven und routinemäßigen Einsatz der Streitkräfte in polizeilichen Angelegenheiten, was einen schockierenden Anstieg der Anklagen wegen Verletzung der Menschenrechte durch Sicherheitskräfte nach sich zog“. Im gleichen Sinne verurteilte das Nationale Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen „Alle Rechte für Alle“ (RedTDT in seiner spanischen Abkürzung, Anm. der Übers.) die Regierung für „60 000 Tote, eine höhere Zahl als im guatemaltekischen Bürgerkrieg, mehr als Tausend Verschwundene, was die Ziffer aus dem schmutzigen Krieg übertrifft, Tausende interne Vertriebene und Flüchtlinge aufgrund von Gewalt; ein maßloser Anstieg von Folter als Methode für Verhöre und Bestrafungen; Attacken auf die Rechte der Frauen und eine ansteigende Zahl an Frauenmorden“.
…und noch mehr Mobilisierungen…
Auf der anderen Seite gab es in den letzten Wochen viele Mobilisierungen gegen die Arbeitsrechtsreform, die im Kongress diskutiert wurde und in den Augen vieler gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung gerichtet ist. Es sind einige strukturelle Reformen, die angestoßen wurden, bevor die neue Regierung überhaupt ihr Amt übernimmt: die Arbeitsrechtsreform, die Haushaltsreform und die Energiereform. In der neuen Zusammensetzung des Kongresses hat die PRI zusammen mit der PVEM und der Partei Neue Allianz (Panal) die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, was ihr erlaubt, zumindest in den nächsten drei Jahren ihre Initiativen voranzubringen.
Am 12. September beendete die Karawane der Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde (MPJD) ihre Reise durch die USA. Obwohl die Berichterstattung über die Karawane durch die Massenmedien eher beschränkt war, bemerkte Javier Sicilia das Positive der Initiative, dass sich „zum ersten Mal Mexikaner und US-Amerikaner zu einer bürgerlichen Diplomatie entschlossen hätten“, vor dem Hintergrund des Vergessens ihrer Regierungen. Die MPJD traf sich mit mehreren Mitgliedern der US-amerikanischen Regierung, um zu verlangen, dass sie sowohl die Waffenlieferungen an die mexikanische Armee für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen einstellen als auch ihren Einsatz gegen den Waffenhandel sowie die Drogennachfrage im eigenen Land verdoppelten.
Einige Fortschritte im Bereich der Menschenrechte und immer noch viel zu tun
Mitte August beschloss der Oberste Gerichtshof, das Militärrecht im Hinblick auf Vergehen von Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung zu einzuschränken. Diese Verbrechen sollen künftig nicht von Militärgerichten verfolgt werden, ein Thema, das seit Langem in den Forderungen der nationalen und internationalen Menschenrechtszentren enthalten ist. Ein weiterer Fortschritt ergab sich im November, als der „Regierungsrat„, zusammengesetzt aus der Zivilgesellschaft und RegierungsvertreterInnen seine Arbeit aufnahm, wodurch formell der Mechanismus zum Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen zu arbeiten begann. Dieser ist Teil des kürzlich verabschiedeten Gesetzes zum Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen. Seine Funktion wird es sein, angeordnete Schutzmaßnahmen zu überprüfen, zu begleiten und sicher zu gehen, dass diese wirksam sind.
Dennoch blieben die starken Rückstände Mexikos besonders im Bereich der Menschenrechte und der Folter deutlich. Im November führte das Komitee der Vereinigten Nationen gegen Folter eine sehr kritische Evaluierung in Mexiko durch (siehe Schwerpunkt). Im Oktober äußerte sich das Forum Migrationen in Mexiko dahingehend, „dass in der Amtszeit von Felipe Calderón die Korruption, Komplizenschaft und Straflosigkeit die erschreckenden Verletzungen der Menschenrechte gegenüber den Transitmigranten ermöglicht haben“. Die Arbeitsgruppe zur Migrationspolitik machte deutlich, dass im Migrationsgesetz vom 28. September einige Änderungen vorgenommen wurden, doch dass „die grundlegenden Probleme der Migranten andauern“. Vor allem „lässt das Gesetz Lücken, da es eine selektive Migration durch das Punkte-und Kostensystem fördert, ohne auf die gesamten Migrationsflüsse einzugehen, welche das Land durchqueren. Es begrenzt sich auf seine Umsetzung, ohne Alternativen zur Festnahme zu entwickeln. Außerdem macht es keine Fortschritte in dem Schutz von Gruppen in besonders gefährlichen Situationen“.
Chiapas: Politischer Übergang aus nationaler, bundesstaatlicher und bezirklicher Ebene
Neben der Amtszeit von Felipe Calderón endet auch die des Gouverneurs von Chiapas, Juan Sabines Guerrero. Zunächst „Musterschüler“ in Menschenrechtsangelegenheiten, wurde er in den letzten Monaten zunehmend in Frage gestellt; nicht nur in Bezug auf die Menschenrechte, sondern auch wegen der zunehmenden Verschuldung des Bundesstaates (mehr als 20.300.000 Pesos). Der neu gewählte Gouverneur Manuel Velasco Coello wird das Amt Anfang Dezember übernehmen. Zudem haben in Chiapas die im Juli gewählten BürgermeisterInnen am 30. September ihre Amtszeit begonnen. Es war eine Zeit der Amtsübergabe, in der sich einige gewalttätige Übergriffe in Motozintla, Chicomuselo, Bejucal de Ocampo, Frontera Comalapa, Mazapa de Madero, Cintalapa, Tila und Las Rosas ereigneten. Eine weitere Serie von Konflikten und Blockaden als Protest gegen die neuen Landräte gab es in Villacorzo, San Juan Chamula und Teopisca.
Parallel dazu verschärften sich einige Gemeindekonflikte, ohne dass die bundesstaatliche Regierung Stellung dazu nahm. Vor allem in den Landkreisen Venustiano Carranza und Chicomuselo gab es zwischen oder innerhalb verschiedener sozialer Organisationen Konflikte.
In den letzten Monaten vermehrten sich außerdem die Anzeigen von allen Räten der Guten Regierung in Bezug auf Konflikte zwischen der zapatistischen Unterstützungsbasis und Mitgliedern anderer sozialer Organisationen und politischer Parteien, sei es wegen Landfragen oder territorialer Kontrolle. Der vielleicht schlimmste Fall, von dem der Rat der Guten Regierung von Roberto Barrios mehrmals berichtete, ereignete sich in der Neuen Siedlung Comandante Abel, offizieller Landkreis Sabanilla, im Norden von Chiapas. Der Rat der Guten Regierung Roberto Barrios informierte, dass am 6. September eine Gruppe von 55 Priisten mit Waffen, vermummt und in militärischen Uniformen in ein zapatistisches Gebiet einfiel, woraufhin eine Vertreibung von 83 zapatistischen Basen folgte. Der Rat der Guten Regierung Roberto Barrios klagte die direkte Beteiligung des chiapanekischen Innenministers Noé Castañón bei der Planung und Durchführung der Gewalteskalation in dem Gebiet an.
Aus dem Hochland beklagte die Organisation „Sociedad Civil Las Abejas“ Anfang Oktober die Reaktivierung von paramilitärischen Gruppen im Landkreis Chenalhó, in der gleichen Form, wie es im Norden von Chiapas geschieht. Sie bestätigte, dass die Freilassung der Verantwortlichen für das Massaker von Acteal seit August 2009 „eine große Umgruppierung der Paramilitärs begünstigte und diese sich nun mit den Nicht-Verurteilten zusammentun. Sie tragen Waffen auf den Straßen, in den Bergen, auf den Wegen zu den Maisfeldern und Kaffeeplantagen“. Die Organisation gab auch bekannt, dass kurz vorher ein Zapatist in Yabteclum angeschossen wurde.
Straflosigkeit als eine Konstante, die die Konflikte schürt
Am 7. September haben die USA dem Ex-Präsidenten Ernesto Zedillo in Bezug auf den Prozess wegen seiner Verantwortung am Massaker von Acteal in 1997 diplomatische Immunität gewährt. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (CDHFBC) bestätigte, dass diese Entscheidung ein Versuch sei, „nicht nur eine Person, sondern eine Aufstandsbekämpfungsstrategie zu verschleiern, welche gegen die indigenen Gemeinden in Chiapas angewandt wurde und welche die mexikanische Armee zwar ausführte, bei der sich diese jedoch mit ihren amerikanischen Amtskollegen beriet“.
Im November gedachte das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas den Ereignissen vom 13. November 2006 in Viejo Velasco, als 40 Personen aus Nueva Palestina und 300 Polizisten in den Ort nahe des Biosphärenreservats Montes Azules einfielen und sechs Tote, zwei Verschwundene sowie 36 Vertriebene zurück ließen. Das Menschenrechtszentrum stellte klar, dass „die in einigen Tagen endende Amtszeit der Regierung eine der Augenwischerei und des Scheins war. Der Gouverneur Juan José Sabines Guerrero verschuldete den Bundesstaat auf Kosten seines Ansehen, welches ihm bei den Regierungsorganismen und Regierungsorganisationen Punkte für seine Arbeit ‚für die Menschenrechte‘ einbrachte, während die massiven Menschenrechtsverletzungen durch eine Konstante verdeutlicht wurden: die Straflosigkeit“.
Oaxaca: Viele Schwierigkeiten nach zwei Jahren Amtszeit von Gabino Cué
Die Gewalt verschärfte sich stark in Guerrero, einer Schlüsselregion des Drogenhandels für den Transport ins Landesinnere, um die sich mindestens zwei Gruppen des organisierten Verbrechens streiten: La Familia Michoacana und Guerreros Unidos. Trotz der Einrichtung des Programms „Sicheres Guerrero“ zeigte die Bevölkerung große Ablehnung gegenüber dem Verhalten der Sicherheitskräfte. Im Oktober demonstrierten zivile Organisationen, EinzelhändlerInnen, Transportunternehmen und StudentInnen in Acapulco gegen die „Willkürlichkeit und Missbräuche“, die seit dem Beginn der Operationen durch die Bundespolizei (PF) verübt wurden. In einer Versammlung listeten sie Rechstwidrigkeiten wie willkürliche Verhaftungen, unbegründete Anklagen und widerrechtliches Aufhalten von Transportfahrzeugen auf. Ende Oktober nahmen 700 Bewohner von Olinalá die Verteidigung ihres Dorfes in die eigenen Hände. Sie errichteten Barrikaden, um sich gegen das Eindringen der organisierten Kriminalität zu wehren. Sie stellten klar, dass sie sich gezwungen sehen diese Entscheidung zu fällen, da die Behörden nichts unternehmen würden. Einige Tage später kam die Marine, um einen Sicherheitseinsatz durchzuführen. Mitglieder der Regionalkoordination der Gemeindeautoritäten (CRAC) erklärten, dass wenngleich die Anwesenheit der Armee sich positiv auswirken könnte, „die Probleme weiter bestehen, wenn sie sich zurück ziehen“. Sie hoben hervor, dass die bundesstaatliche und die Bundesregierung ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen seien, die Sicherheit der Landkreise in der Region der Montaña zu gewährleisten.
Daten ziviler Organisationen legten im September offen, dass im laufenden Jahr bis August mindestens 135 Frauen ermordet wurden, weshalb sie dringend dazu aufriefen, eine Alarmstufe für die Frauen zu erklären. Die Beobachtungsstation für geschlechterspezifische Gewalt in Guerrero „Hannah Arendt“ beklagte außerdem die Verschlimmerung der Vergehen gegen die Opfer, denn „dem Mord vorangegangene sexuelle Gewalt und Folter wurden in vielen Fällen dokumentiert“. Allgemein hat die Gewalt gegen Frauen in Guerrero zugenommen, welches sich jetzt auf Platz drei nach Mexiko-Stadt und Chihuahua hält.
Zwei Jahre nach den Urteilen des Interamerikanischen Gerichtshofs in den Fällen der indigenen Frauen Inés Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú, die 2002 von Soldaten vergewaltigt wurden, hob das Menschenrechtszentrum Tlachinollan für beide Fälle hervor, dass „trotz der Tatsache, dass die Untersuchungen vor einem Jahr an zivilrechtliche Instanzen verwiesen wurden, es bisher keine Anzeichen gibt, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass das Verteidigungsministerium nicht kooperiert.“ Kürzlich hat die föderale Judikative hingegen dem Interamerikanischen Gerichtshof einen Bericht zugesandt, in welchem sie darüber informierte, dass sie den Urteilen in den Fällen Rosendo Radilla (erzwungenes Verschwindenlassen 1974) und Valentina Cantú nachgekommen ist.