2004
03/01/2005ANALYSE : Vom Roten Alarm zur Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald
29/07/2005Im Januar, während seines Besuchs in Chiapas, erklärte Präsident Vicente Fox aus der „Konfliktzone“ heraus, die EZLN (Zapatistische Nationale Befreiungsarmee) sei ein Thema, das „praktisch in der Vergangenheit liegt, während alle nach vorn schauen„. Diese Erklärung löste eine Polemik aus. Die COCOPA (Kommission für Einigkeit und Befriedung, legislatives Unterstützungsorgan in den lange zurückliegenden Verhandlungen wischen EZLN und Regierung) drückte eine „ernsthafte Befremdung“ aus, wenn auch nicht offiziell, da in der eilig einberufenen Sitzung nicht genügend Personen anwesend waren.
Der Gouverneur von Chiapas, Pablo Salazar Mendiguchía, deutete in gewissem Maß den unglücklichen Satz von Fox um: „Ich teile seine Ansicht, daß der Zapatismus als bewaffnete Option eine Sache der Vergangenheit ist. Wir sprachen von den neuen Äußerungen des Zapatismus, die zivil sind, Anstrengungen in ihrem eigenen Territorium, sich neue Formen des Zusammenlebens zu geben.“
Verschiedene Nichtregierungsorganisationen betonten, daß der Konflikt in Chiapas in seinen strukturellen Ursachen weiterbesteht (siehe SIPAZ Webseite). Sie bestätigten, daß die Strategie des „Zermürbungskrieges“ nicht mehr durch eine direkte Konfrontation ausgeübt wird, sondern durch eine Reihe militärischer, politischer und wirtschaftlicher Strategien, die beabsichtigen, die Zapatistas zu isolieren und Konflikte auf Gemeindeebene hervorzurufen. Mehr als alles andere zeigten die Worte von Präsident Fox, daß die EZLN nicht das Hauptproblem der aktuellen Regierung ist, wenn sie sich völlig auf die nächsten Präsidentschaftswahlen 2006 konzentriert, bedrängt vom wachsenden Einfluß des Drogenhandels und mit unvollendeten Gesetzesinitiativen, die für sie mehr Bedeutung haben.
Auf der anderen Seite hält die EZLN eine Art unerklärten Waffenstillstand mit den bundesstaatlichen Autoritäten ein. Sie hat sich für eine Strategie der Nichtkonfrontation entschieden, die ihr erlaubt, ihren Prozeß der Autonomie durch Tatsachen weiter zu verstärken (siehe Fokus).
Neue Konflikte, alte Konflikte
Auf bundesstaatlicher Ebene läßt sich eine Vervielfachung der Konflikte verschiedener Art beobachten. Einerseits gibt es eine Reaktivierung verschiedener Bauernorganisationen und damit eine erneute Konfrontation mit der Bundesstaatsregierung. Einige dieser Organisationen, wie die CIOAC (Unabhängige Zentrale der Landarbeiter und Bauern), die früher die Regierung von Pablo Salazar unterstützten, wenden sich nun von ihr ab, weil sie ihre Forderungen nicht erfüllt sehen. Andere Fronten gibt es bei den Lehrern und der wachsenden Bewegung gegen die Bezahlung der Strompreise (siehe letzten SIPAZ-Bericht).
Darüber hinaus geht der Konflikt um das Biosphärenreservat Montes Azules weiter. Im Januar wurden mehr als 800 Tseltal-Indígenas, die in sieben Gemeinden im Bezirk Ocosingo lebten, in das Dorf „Nuevo Montes Azules“ im Bezirk Palenque umgesiedelt. Es ist wichtig zu betonen, daß diese Umsiedlung neue, zwischenethnische Konflikte hervorrufen kann, wenn Familien mit verschiedenen Sprachen zusammen angesiedelt werden. Der Staat verlagert das Problem weiterhin, statt es zu lösen.
Drei weitere Phänomene, die bisher hauptsächlich auf die Grenzregion beschränkt waren, breiten sich in andere Regionen des Bundesstaates aus: das Anwachsen der „maras salvatruchas“ (kriminelle Banden) und des Drogenhandels sowie eine sich immer mehr ausbreitende Tendenz zum „Femizid„. Chiapas liegt auf nationaler Ebene unter den fünf ersten Plätzen in der Zahl ermordeter Frauen.
Steigende Besorgnis in den Gemeinden und den Städten erregt die Migration aufgrund von mangelnden wirtschaftlichen Perspektiven im Bundesstaat. Die Regierung hat bekanntgegeben, daß im Jahr 2004 Chiapas 500 Millionen Dollar erhielt, die Tausende von Migranten an ihre Familien in der Heimat überwiesen, ein Zuwachs von 40% gegenüber dem Vorjahr. Die genannten Probleme bestehen jedoch nicht nur in Chiapas, sondern in ganz Zentralamerika.
Im Vorfeld des 1. Januar, Tag der Amtsübernahme der im letzten Oktober gewählten Bezirksautoritäten, gab es in mehreren Bezirken, wie Oxchuc, Tila und Sabanilla, Demonstrationen, Straßenblockaden und Auseinandersetzungen.
Die gewaltsamsten Ereignisse fanden in Tila statt. In diesem Bezirk in der Nördlichen Zone gewann die PRI (Partei der Institutionellen Revolution) mit weniger als 100 Stimmen gegen die Allianz PRD (Partei der Demokratischen Revolution)-PT (Partei der Arbeit). Beide Gruppen verkündeten ihren Sieg. Da es keine Einigung gab, wurde der Fall den zuständigen Wahlbehörden übertragen. In letzter Instanz sprach das Wahltribunal der Föderalen Justiz (TEPJF) der PRI und ihrem Kandidaten Juan José Díaz Solórzano den Sieg zu. Die Mitglieder der Allianz erkannten diese Entscheidung nicht an und errichteten Ende Dezember eine Mahnwache vor dem Rathaus, um die Amtsübernahme des neuen Bürgermeisters zu verhindern. Es wurde versucht, durch die Einbindung der Allianzmitglieder in den Bezirksrat eine Einigung zu finden, die von diesen aber abgelehnt wurde, da es sich um niedrigere Posten handelte.
Am 15. Februar wurde die Mahnwache gewaltsam geräumt, wobei laut Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas 54 Personen (49 nach offiziellen Zahlen) festgenommen wurden; außerdem wurden sechs Häuser abgebrannt, drei Autos zerstört sowie Straßen blockiert. Mindestens 800 bewaffnete Kräfte der Kreispolizei und der Bundesstaatlichen Untersuchungsagentur (AEI) waren an den Auseinandersetzungen beteiligt.
Ein erster Einsatz fand am Morgen statt. Mitglieder der Allianz zündeten mehrer Häuser an und nahmen fünf Personen gefangen (sie wurden im Laufe des Tages freigelassen), um sie gegen die 19 Festgenommenen auszutauschen. Am Nachmittag kam ein schwerbewaffnetes Polizeikontingent zurück, um willkürlich einige Häuser zu durchsuchen. Es wurden 35 weitere Personen festgenommen. Am selben Tag entschieden sich viele Einwohner Tilas, mehrheitlich Anhänger der Allianz, in die Umgebung, in andere Städte des Bezirks oder sogar in andere Bundesstaaten zu flüchten. Am 28. Februar wurden 30 Festgenommene freigelassen, der Rest bleibt weiterhin in Haft.
Der Pfarrer von Tila, Heriberto Cruz, warnte, daß sich die Spannungen in der Region sowieso schon durch die postelektoralen Probleme und die Reaktivierung der paramilitärischen Gruppe „Paz y Justicia“ wiederbelebt haben und in diesem Zusammenhang die polizeiliche Räumung „die Wunden der Indígenas in Tila wieder aufgerissen“ und „den Frieden gefährdet“ hätten.
In den Tagen nach der Räumung wurde Samuel Sánchez Sánchez, Gründer und Anführer von „Paz y Justicia“, festgenommen. Diese Festnahme wurde vom Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas als „spät und unzureichend“ beurteilt. Petalcingo, die Hauptstadt eines weiteren Bezirks in der Nördlichen Zone, bleibt weiterhin besetzt, und eine weitere Räumung wird befürchtet.
Diese Vorfälle bringen uns erneut zu der Frage, wer in der letzten Wahlen gewonnen und wer verloren hat. Der ständige Wechsel von Kandidaten zwischen PRI, PRD und PT, der in der Nördlichen Zone so auffällig ist, ist ein Zeichen der tiefen Identitätskrise, in der sich die politischen Parteien befinden. In Tila beispielsweise stritten sich zwei Fraktionen von „Paz y Justicia“ um das Amt des Bezirkspräsidenten. Auf der einen Seite besteht die PRI hauptsächlich aus Mitgliedern der UCIAF (eine Abspaltung von „Paz y Justicia“), auf der anderen Seite finden sich in der Allianz PRD-PT ebenfalls alte Anführer von „Paz y Justicia“.
Obwohl der Streit sich auf interne Kämpfe bezog, waren an der Zurückweisung des PRI-Kandidaten auch traditionell an die PRD gebundene Personen beteiligt. Der gewaltsame Polizeieinsatz berücksichtigte nicht diese komplexe Situation und das delikate Klima in der Nördlichen Zone. Der unverhältnismäßige Polizeiangriff berührte einen empfindlichen Punkt: die Auflösung des sozialen Gefüges.
Um den Kontext, in dem dieser Konflikt sich entwickelte, besser zu verstehen, hilft es, sich Elemente in Erinnerung zu rufen, die einige als vergangen bezeichnen. Am 9. Februar veröffentlichte das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas eine Beschwerde über Menschenrechtsverletzungen in der Nördlichen Zone von Chiapas, die im Oktober 2004 der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) präsentiert wurde. Die Veröffentlichung wurde verzögert, um die Sicherheit der Kläger zu garantieren, aber das Datum wurde auch nicht zufällig gewählt.
Am 9. Februar 1995 startete die Regierung von Ernesto Zedillo eine Militäroffensive, um die zapatistische Kommandantur festzunehmen. Nach diesem Datum wechselte die Strategie der Regierung, und es gab eine Eskalation der Gewalt gegen die Zapatistas und die Zivilbevölkerung von seiten paramilitärischer Gruppen wie „Paz y Justicia“, mit Tausenden Vertriebenen, Dutzenden Toten und Verschwundenen. Die Beschwerde bezichtigt den Expräsidenten Ernesto Zedillo als ehemaligen Oberbefehlshaber der Mexikanischen Streitkräfte, den General Cervantes Aguirre, ehemaliger Verteidigungsminister, und den General Mario Renán Castillo, ehemaliger Kommandant der Siebten Militärregion, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Das Zentrum Fray Bartolomé stellte klar, daß nicht nur in der Ch’ol-Region (im Norden von Chiapas), sondern auch im Fall von Acteal, wo im letzten Dezember der siebte Jahrestag des Massakers begangen wurde, sowie in weiteren Fällen die Gerechtigkeit noch aussteht. Es wies darauf hin, daß die paramilitärischen Strukturen weder aufgelöst noch entwaffnet wurden, die materiellen und intellektuellen Urheber nicht bestraft wurden, den Opfern der Vertreibungen, Morde, des Verschwindenlassens und der Folter keine Entschädigungen gezahlt wurden. Die Anklage des Zentrums unterstreicht, daß in Chiapas ein „unsichtbarer Krieg“ weiterbesteht.
Die nationale Ebene: genauso komplexe Situation
Das Amtsenthebungsverfahren gegen Andrés Manuel López Obrador bleibt eine zentrale Achse der nationalen politischen Debatte. Zur Erinnerung: Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, dem hauptstädtischen Bürgermeister das Amt zu entziehen, um ihn für seine mutmaßliche Verantwortung für Vergehen des Amtsmißbrauchs und Nichtbefolgung juristischer Entscheidungen bezüglich der Einstellung von Straßenbauarbeiten vor Gericht zu stellen. Dies könnte seine Präsidentschaftskandidatur verhindern. Die Medien verlieren langsam das Interesse an dem Fall, was Teil der Strategie sein könnte. Es gibt weiterhin Widerstand der Bevölkerung gegen das willkürliche Verhalten der Regierung. In den letzten Monaten fanden mehrere Demonstrationen statt, und es entstehen immer noch neue Bürgerkomitees zur Unterstützung. López Obrador selbst erklärte zu den Angriffen: „Präsident Fox ist mein bester Wahlkampfleiter“. Präsident Fox und seine Partei, die PAN (Partei der Nationalen Aktion), äußern sich entweder direkt gegen den hauptstädtischen Regierungschef oder beschränken sich darauf, sich für die „Legalität“ auszusprechen. Die PRI hat es in einem gewissen Rahmen geschafft, sich von der Debatte abzugrenzen, und versucht, ihre internen Streitigkeiten zu klären und sich in den Wahlen der Bundesstaaten zu stärken. Nachdem sie die nördlichen Staaten zurückgewonnen und in Veracruz, Oaxaca und Puebla gewonnen hat, hat sie bereits den Norden, Osten und Süden des Landes unter Kontrolle und treibt die PAN- und PRD-regierten Staaten im Zentrum und im Westen in die Enge. Der Sieg der PRD in Guerrero schlägt jedoch ein wichtiges Loch in den Süden, traditionell Bastion der PRI.
Selbst die EZLN mischte sich in die Debatte um die Amtsenthebung ein, mit einer scheinbar unparteilichen Stellungsnahme. Seit der Indigenen Reform von 2001, die sie als „Verrat“ ansah, hat sie den Dialog mit den politischen Parteien aufgekündigt. Dennoch erklärten die Zapatistas ihre Ablehnung des Amtsenthebungsverfahrens. Sie betonten, daß sie zwar weder mit López Obrador noch mit der PRD sympathisieren, jedoch das Verfahren ablehnen, weil es „nicht nur illegitim, sondern illegal“ und „ungerecht“ sei. Sie bezeichnen es als „präventiven Staatsstreich“.
Die Vertreter der Banken in Mexiko betonten angesichts eines möglichen Sieges der PRD in den kommenden Präsidentschaftswahlen, ein linker Präsident würde keine Gefahr für die Wirtschaft des Landes darstelle; dies steht im Gegensatz zu früheren Aussagen, in denen sie ein Desaster voraussagten, wenn die Linke an die Regierung käme.
Auf der anderen Seite waren die letzten Monate vom Kampf des Drogenhandels gegen die Bundesregierung gekennzeichnet, mit Dutzenden ermordeter Polizisten in mehreren Bundesstaaten und mehreren Festgenommenen, die beschuldigt werden, staatliche Stellen, einschließlich des Regierungssitzes Los Pinos, unterwandert zu haben. Angesichts der Unterwanderung des Gefängnispersonals durch den Drogenhandel wurden das Hochsicherheitsgefängnis La Palma sowie weitere Strafanstalten militarisiert.
Das Außenministerium der USA gab seinen jährlichen Bericht über die Menschenrechtslage Mexikos heraus, in dem schwerwiegende Probleme der Korruption in Polizei und Militär, Entführungen und Erpressung durch bundesstaatliche und bezirkliche Polizisten, willkürliche Festnahmen, unter Folter erpreßte Geständnisse und außergerichtliche Tötungen durch Polizei und Militär erwähnt sowie ein „schlechtes“ Menschenrechtsklima besonders in den Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca und Chiapas beschieden werden.
José Luis Soberanes, Präsident der Nationalen Kommission für Menschenrechte (CNDH) sagte, die USA hätten kein moralisches Recht, Mexiko zu kritisieren, gab aber zu, daß „es leider stimmt“. Dennoch versicherte US-Außenministerin Condoleezza Rice während ihres Besuchs in Mexiko, daß das Weiße Haus „nicht mit dem Finger auf Mexiko zeigt“. Bezüglich der kommenden Präsidentschaftswahlen betonte sie, daß die US-Regierung eine mexikanische Regierung jedweder Richtung akzeptieren würde, „solange sie im demokratischen Rahmen bleibt“.
Ende Februar versicherte der Vertreter des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte in Mexiko, Anders Kompass, Mexiko sei bei der Durchsetzung der Gerichtlichkeit an letzter Stelle in Lateinamerika, und drängte auf Verbesserung des legislativen und juristischen Rahmens, um die individuellen Rechte der Bürger zu schützen. Kompass führte aus, es sei nötig, sozialen Druck auf die öffentlichen Beamten auszuüben, die sich nicht an die Empfehlungen der Verteidigungsinstanzen der Individualrechte halten.
Obwohl im Fall des Todes von Digna Ochoa die Akte geschlossen wurde und im Fall Noel Pável kurz vor der Schließung ist, bleiben beide Fälle ungelöst. Im Januar kritisierte Subcomandante Marcos in einer Antwort auf den Brief des Generalstaatsanwalts von Mexiko-Stadt (PGJDF) Bernardo Bátiz Vázquez vom vergangenen September: „Was die Generalstaatsanwaltschaft machte, Herr Bátiz, war nicht, die Wahrheit aufzudecken noch Gerechtigkeit auszuüben. Das einzige, was sie beantragt und auch erreicht hat, war die Gunst der Rechten zu gewinnen, indem sie das Leben von zwei Personen in den Schmutz zog, die mehr taugten als alle Funktionäre der Regierung von Mexiko-Stadt zusammen. Und sie hat das in der niederträchtigsten Weise getan: indem sie ihren Tod beschmutzte.“ Er bat den Generalsstaatsanwalt, den Fall Digna wieder zu öffnen und seine Mitarbeiter zu verpflichten, den Fall Pável mit Verantwortlichkeit, Ernsthaftigkeit und Effizienz weiterzuführen. Bátiz seinerseits ratifizierte das Untersuchungsergebnis, die Menschenrechtsverteidigerin habe sich selbst umgebracht, das gleiche geschah im Fall Pável. Dessen ungeachtet verpflichtete das zweite Strafgericht im Februar die Generalstaatsanwaltschaft, die Untersuchungen über den Tod von Digna Ochoa wiederaufzunehmen.