ANALYSE : Mexiko – Menschenrechte und Sicherheit; ein unlösbares Rätzel?
30/04/2009AKTUELL : Ernsthafte Verschlechterung der Menschenrechtssituation in Chiapas und Mexiko
30/11/2009In den letzten Monaten machte Mexiko nicht etwa mit Meldungen über organisierte Kriminalität Schlagzeilen in internationalen Zeitungen, sondern vielmehr auf Grund des Grippevirus AH1N1(auch als Schweinegrippe bekannt geworden), da es als erstes Land vor dem Virus warnte und in der Anfangszeit die höchste Zahl an Erkrankten aufwies. Nachdem der medizinische Notfall unter Kontrolle war und auch wenn sich der Virus bis zum aktuellen Zeitpunkt weiter ausbreitet, wurden jetzt bereits drei Aspekte offensichtlich, die nicht weniger beunruhigend sind.
Auf der einen Seite wird geschätzt, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der Epidemie mindestens 1% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausmachen. Neben den Einbrüchen im Tourismussektor (eine der Haupteinkommensquellen des Landes), schadeten die Vorsichtsmaßnahmen zur Eindämmung der Grippe einer Wirtschaft, die schon vor der Epidemie den schlimmsten Einbruch seit der Wirtschaftskrise von 1995 erlitten hatte. Die wirtschaftliche Lage könnte sich zusätzlich noch auf Grund des Rückgangs der Migration in die USA verschlimmern, ein Phänomen, das auf gewisse Art als „Ventil“ diente. Der erwähnte Rückgang ist dabei aber weniger das Ergebnis der verschärften Kontrollmaßnahmen von Seiten der USA, sondern vielmehr die Folge unzureichender Arbeitsplätze in diesem Land, dies wiederum auf Grund der weltweiten Wirtschaftskrise. Die Berichterstattung über den Drogenkrieg und über besagte Epidemie hat oft genug erfolgreich verschwiegen, dass nahezu 40% der mexikanischen Bevölkerung in Armut lebt. Auf der anderen Seite wurden durch die Epidemie die Schwachstellen des aktuellen Systems der industriellen Tierzucht deutlich, die von großen transnationalen Unternehmen kontrolliert wird, ebenso wie strukturellen Defizite im mexikanischen Gesundheitssystem.
Wahlen inmitten einer Phase der Unglaubwürdigkeit der Institutionen
Die Tatsache, dass so viele Mexikaner allein die Existenz des AH1N1- Virus anzweifeln, mag Aufsehen erregen. Dieses Misstrauen entsteht zum Großteil aus der fehlenden Glaubwürdigkeit der Institutionen. Im April veröffentlichte das Innenministerium die Ergebnisse der 4. Nationalen Umfrage über politische Kultur und Bürgerbeteiligung, worin festgehalten wird, dass lediglich die Hälfte der Mexikaner der Meinung ist, in einem demokratischen System zu leben und eine ähnlich hohe Anzahl denkt, dass die Regierung eher ihre eigenen Vorstellungen durchsetzt als sich nach den Bedürfnissen der Bevölkerung richten.
Diese Entfremdung zwischen Bürgern und politischen Repräsentanten spiegelt sich auf verschiedenen Ebenen wider, eine davon ist die der Wahlen. Am 5. Juli fanden Wahlen statt, um mehr als 1.500 öffentliche Ämter im ganzen Land zu besetzen. Die Stimmenthaltung betrug 55,19% und 5,4% der abgegebenen Stimmen waren dabei ungültig. Im Vorfeld der Wahlen war eine regelrechte Bewegung „Pro ungültige Stimmabgabe“ entstanden.
Zieht man die Ergebnisse trotz der niedrigen Wahlbeteiligung in Betracht, so werden bestimmte Veränderungen im Vergleich zum vorangegangenen Jahrzehnt deutlich: nachdem die Partei der Institutionellen Revolution (PRI, die Partei die bis zum Jahr 2000 über 70 Jahre lang an der Macht gewesen war) fast 12 Jahre lang keine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer hatte, war sie der große Gewinner der Wahl. Von insgesamt 500 Sitzen gewann sie 237. Ebenfalls am 5. Juli gewann sie außerdem fünf der sechs neu zu wählenden Gouverneursposten.
Die Partei der Nationalen Aktion (PAN, die aktuelle Regierungspartei) kam in den Kongresswahlen lediglich auf 9.549.000 Stimmen (dies entspricht 12,3%), was als Rückschlag für die Regierung von Felipe Calderón gewertet wurde. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die PAN bei den Wahlen von 2006 im Kontext von Wahlbetrugsvorwürfen durch ca.14 Millionen Wählerstimmen weiterhin an der Präsidentschaft festhalten konnte. Von den bisher 206 Abgeordneten auf Bundesebene konnte sie lediglich 143 Sitze halten. Nicht anders erging es auch den linken Parteien, die die Auswirkungen interner Konflikte und Spaltungen zu spüren bekamen: von bisher 126 Sitzen behaupteten sie lediglich 90 (71 für die Partei der Demokratischen Revolution, PRD, 13 für die Partei der Arbeit und sechs für die Partei der Konvergenz).
Militarisierung: eine Lösung, die keine ist
Trotz der durch die Influenzaepidemie verschärften wirtschaftlichen Situation und der Wahlergebnisse, besteht kein Zweifel daran, dass der Kampf gegen den Drogenhandel die höchste Priorität der föderalen Regierung ist. Nach einem vorübergehenden Rückgang der Opferzahlen, scheint die Gewalt in den letzten Monaten wieder zugenommen zu haben.
Das wenig ermutigende Bild erweiternd, gab der Indikator der weltweiten Regierungsführung der Weltbank Ende Juli 2009 in Bezug auf politische Stabilität und Gewaltfreiheit Mexiko auf einer Skala von 1 bis 100 im Jahr 2008 24,4 Punkte, im Vergleich zu 27 im Jahr 2007 und 45 Punkten im Jahr 2004. Im Hinblick auf einen funktionierenden Rechtsstaat (Indikator, der die Fähigkeit beurteilt, auf die Einhaltung der Gesetze hinzuwirken) erhielt Mexiko im Jahr 2008 29,7 Punkte im Vergleich zu 36,2 im Vorjahr und 42,4 Punkten im Jahr 2004.
Im Kontext des medizinischen Ausnahmezustands auf Grund der Influenza verabschiedete der Kongress im Rahmen des Nationalen Sicherheitsgesetzes Gesetzesinitiativen der Regierung. Im April hatte die föderale Regierung ein Paket mit vier Reforminitiativen verabschiedet, die die nationale Sicherheit, das Militärrecht, den Waffenhandel und die organisierte Kriminalität betreffen.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Artikel 129 der mexikanischen Verfassung besagt, dass „in Friedenszeiten keine militärische Autorität mehr Funktionen wahrnehmen kann, als die, die direkt mit militärischen Aufgaben zu tun haben“. Paradoxerweise wurde mit dem Vorsatz, „die Ausbreitung der organisierten Kriminalität“ zu bremsen und die nationale Sicherheit „vollständig“ zu garantieren, eine Form des Ausnahmezustand vorgeschlagen wurde, bei der sich im Falle einer „Bedrohung der inneren Sicherheit“ die zivilen staatlichen Strukturen den militärischen unterordnen. „Aufstände“ gelten nach dieser Definition als einer der Gründe, um den o.g. Ausnahmezustand auszurufen.
Seit Beginn der Amtszeit Calderóns hat das Militär nach und nach mehr Aufgaben der öffentlichen Sicherheit übernommen, sodass die verabschiedeten Reformen eher die bestehende Praxis zu normalisieren und legalisieren scheinen. Die Befürchtungen von Menschenrechtsorganisationen und Intellektuellen haben mit der Aufhebung bestimmter Grundrechte zu tun, wie z.B. die Rede-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit sowie das Recht auf einen rechtmäßigen Prozess. Laut der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) wurden während der laufenden Regierungsperiode mehr als 1.600 Beschwerden gegen die Armee wegen Straftaten wie willkürliche Tötung, Folter, Vergewaltigung, willkürliche Festnahmen und der exzessive Gebrauch von Schusswaffen eingereicht.
Immunität des Militärs: Priorität auf der Agenda der Menschenrechtsorganisationen
Sowohl in den Medien als auch auf nationalen und internationalen Foren wurden in den letzten Monaten Menschenrechtsverletzungen angeklagt, die von Angehörigen des Militärs während des Schmutzigen Krieges sowie aktuell im Kampf gegen den Drogenhandel begangen wurden. Ende März fand im Rahmen der 143. Sitzungsperiode der Interamerikanischen Kommission der Menschenrechte (IAKMR) in Washington eine Anhörung zum Thema Militärrecht und Menschenrechte statt. Organisationen der mexikanischen Zivilgesellschaft veröffentlichten Daten, die sie größtenteils während der aktuellen Amtsperiode erfasst haben und wonach der mexikanische Staat die internationalen Standards in diesem Bereich nicht erfüllt. Am Ende der Sitzungsperiode veröffentlichte die Interamerikanische Menschenrechtskommission einen Bericht, in dem sie „ihre Besorgnis“ ausdrückt, „angesichts der Tatsache, dass in einigen Ländern der Region das Militärrecht weiterhin dazu dient, allgemeine Straftaten des Militärs oder der Polizei zu verfolgen und zu verurteilen. Die Kommission betont, dass die Militärgerichtsbarkeit ausschließlich bei Straftaten innerhalb der militärischen Ordnung angewendet werden darf.“
Vergangenen April veröffentlichte Human Rights Watch seinen Bericht „Uniformierte Straffreiheit: die unrechtmäßige Anwendung des Militärrechts in Mexiko, um den Missbrauch während des Einsatz gegen den Drogenhandel und in der öffentlichen Sicherheit zu untersuchen“, in dem sie erklären wie die Immunität des Militärs dazu dient, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zu schützen.
Sechs der acht Empfehlungen, die abermals von der mexikanischen Regierung während des „Examen Periódico Universal“ (EPU) im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (VN) (siehe SIPAZ Bericht Vol. XIV Nr. 1 – April 2009) im Juni abgelehnt wurden, bezogen sich im Kern auf die Notwendigkeit der Einschränkung der Militärgerichtsbarkeit.
Am 7. Juli musste die mexikanische Regierung vor der Interamerikanischen Kommission der Menschenrechte auf Grund des Falles des gewaltsamen Verschwindenlassens von Rosendo Radilla Pacheco erscheinen, der zuletzt 1974 in der ehemaligen Militärkaserne von Atoyac de Álvarez, im Bundesstaat Guerrero gesehen wurde (ein Fall von gewaltsamem Verschwindenlassen im Rahmen des Schmutzigen Krieges).
Am 8. Juli stimmte die Erste Kammer des Obersten Gerichtshofs zu, die Anhörung über einen Einspruch im Zusammenhang mit der Immunität des Militärs dem Plenum zu übergeben. Es wird die Tatsache in Frage gestellt, dass der Mord an dem Zivilisten Zenón Medina durch Angehörige des Militärs im März 2008 an einer Militärsperre in Sinaloa, durch ein Militärgericht verurteilt wurde. Das Verteidigungsministerium (Sedena) wies diesen Antrag zurück, weil es den Fall als Verstoß gegen die Militärdisziplin im Dienst erachtet.
Angesichts des internationalen Drucks und obwohl die föderale Regierung die militärische Immunität weiterhin verteidigt, gab Calderón den VN bekannt, dass im Rahmen des Militärrechts zur Zeit sechs Ermittlungsverfahren laufen und dass in drei Fällen 34 Soldaten vorgeladen wurden und dass in neun Verfahren 14 Personen verurteilt wurden.
Trotz der Zweifel erhält das mexikanische Militär mehr Unterstützung durch die USA
In den letzten Monaten fanden verschiedene Besuche hoher Regierungsfunktionäre der Vereinigten Staaten in Mexiko statt, darunter im April auch der erste offizielle Staatsbesuch von Barack Obama. Es wurden jedoch keinerlei Absprachen in den Bereichen getroffen, die gewisse Erwartungen geweckt hatten (Handel, Migration, Sicherheit).
Die Medienberichterstattung in den USA, wo Mexiko als „gescheiterter Staat“ dargestellt wurde, ist einer der möglichen Gründe, weshalb Mitte Juni das Gesetzesverfahren zur Verabschiedung des Gesetzes zusätzlicher Militärausgaben von 2009 abgeschlossen wurde, welches 420 Millionen Dollar für Mexiko beinhaltete. Die genannte Summe liegt dabei deutlich über den anfangs von Obama vorgeschlagenen 66 Millionen Dollar. In der Tat werden dadurch die in den ersten zwei Jahren der Merida-Initiative gekürzten Ausgaben wieder in vollem Umfang bereitgestellt und sogar aufgestockt.
Eine weitere Dimension der Zusammenarbeit zwischen den USA und Mexiko stellte die Teilnahme eines Kontingents der mexikanischen Armee am UNITAS-Manöver dar, das von der vor einem Jahr reaktivierten 4. Flotte der Vereinigten Staaten von Amerika koordiniert wird. Experten gehen davon aus, dass die 4. Flotte, deren Einflussgebiet Lateinamerika und die Karibik umfasst, zusammen mit der Gründung des „Kommando Nord“ Teil einer strategisch-militärischen Neuorientierung der USA im Hinblick auf die Region Lateinamerika darstellt. Diese Entwicklung könnte sich nach dem Putsch in Honduras am 27. Juni noch beschleunigen, ein Ereignis, dessen geopolitische Konsequenzen für den Kontinent noch abzuwarten sind.
Von sozialen Bewegungen bis hin zu bewaffneten Gruppen: ein trüber Ausblick
Ende März erhielt das Plenum des Obersten Gerichtshof Mexikos den Vorabbericht über die Menschenrechtsverletzungen, die zwischen Mai 2006 und Juli 2007 in Oaxaca begangen worden waren, von dem man sich nach den Entscheidungen im Falle von Atenco (siehe SIPAZ-Bericht April 2008) allerdings nicht allzuviel versprach. Obwohl abermals die Tatsache „schwerwiegender Verletzungen individueller Rechte“ festgehalten wurde, beschloss die Kommission keine „Verantwortlichkeiten“ zu untersuchen, sondern „einzig Personen zu identifizieren, die an den als schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen eingestuften Geschehnissen beteiligt waren“..
Eines der Themen, welches verschiedene Menschenrechtsorganisationen besonders beschäftigt hat, wurde auf dem „Internationalen Forum zur Kriminalisierung von Menschenrechtsaktivisten und des sozialen Kampfes“ behandelt, das am 20. April in Guerrero stattfand. Neben der generellen Anklage der Situation im Land, betonte die Abschlusserklärung abermals „das Recht auf Protest als Folge der ineffizienten institutionellen Mechanismen und der fehlenden Antworten auf soziale Forderungen“.
Im April veröffentlichte das Nationale Netzwerk Ziviler Menschenrechtsorganisationen „Alle Rechte für alle“ einen Bericht, in dem innerhalb der letzten zwei Jahre von mindestens 41 Fällen von Menschenrechtsverletzungen an Umweltaktivisten in 13 Bundesstaaten des Landes (auch in Chiapas) berichtet wurde, angefangen von Polizeirepression, willkürlichen Verhaftungen, Auseinandersetzungen innerhalb von Gemeinden, Drohungen und Belästigungen bis hin zu Mord. Es wird darauf hingewiesen, dass die Arbeit von Umweltaktivisten im Land um so gefährlicher wird, je stärker ihre Aktionen wirtschaftliche Interessen der Regierung, lokaler Machthaber und transnationaler Unternehmen gefährden.
Eine weitere Tatsache, die unbemerkt bleiben könnte, ist die Bekanntgabe des Manifests von Ostula, ein Dokument das Mitte Juni von indigenen Dörfern und Gemeinden aus neun Bundesstaaten verabschiedet wurde, die an der 25. Versammlung des Nationalen Indigenen Kongress (CNI) der Region Zentrum und Pazifik teilgenommen hatten. Angesichts der staatlichen und paramilitärischen Repression, der sie ausgesetzt sind, sowie der neoliberalen Politik „der Verachtung, Diskriminierung, Zerstörung und Tod“, betonen sie ihr Recht auf Selbstverteidigung, um ihr Territorium und ihre natürlichen Ressourcen zu schützen.
Am 21. April sah die Vermittlungskommission zwischen der Revolutionären Armee des Volkes (EPR) und der Regierung nach einem Jahr ihres Bestehens ihre Mission als beendet an, deren Absicht die Aufklärung des Falles zweier Aktivisten der bewaffneten Organisation war, die als verschwundene Verhaftete galten. Sie rechtfertigte ihre Entscheidung damit, dass „der Wille der föderalen Regierung sich lediglich auf allgemeine Stellungnahmen“ beschränkt hätte.
Chiapas: Straffreiheit und „neue-alte“ Konflikte
Im Juni fand das erste Amerikanische Treffen gegen die Straffreiheit im Caracol der Zapatisten in Morelia statt, an dem Personen aus 15 Ländern des lateinamerikanischen Kontinents teilnahmen, außerdem Delegierte aus Europa und Australien. Die Straffreiheit wurde wiederholt als Teil der Vergangenheit und der Gegenwart in Lateinamerika angeprangert, eine Tatsache, die sicherlich auch auf Chiapas zutrifft. Eines der Geschehnisse, die in diesem Sinne während der letzten Monate für starkes Aufsehen gesorgt haben, ist das Risiko, dass der Oberste Gerichtshof (SCJN) 12 der im Fall des Massakers von Acteal am 22. Dezember 1997 Angeklagten freilassen könnte. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (CDHFBC) ließ die Befürchtung verlauten, „dass der Oberste Gerichtshof durch seine Entscheidung die Straffreiheit fördert, mit unvorhersehbaren Folgen für die indigenen Gemeinden in Chiapas, wo immernoch ein ungelöster, interner bewaffneter Konflikt herrscht“.
Ende März wurde auf Initiative der bundesstaatlichen Regierung eine auf den Schutz nicht-staatlicher Menschenrechtsorganisationen in Chiapas spezialisierte Staatsanwaltschaft eingerichtet, womit einer Empfehlung der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) gefolgt wurde, um auf die vermeintliche Verzögerung in den Ermittlungsverfahren bezüglich der Aggressionen gegenüber dem CDHFBC im Oktober 2006 zu reagieren. Dessen ungeachtet scheint angesichts der seit Juni wiederholt zu beobachtenden Tendenz von Einschüchterungen gegenüber Menschenrechtsaktivisten in San Cristóbal de Las Casas diese Art von Aggressionen nicht der Vergangenheit anzugehören.
Auf der anderen Seite dreht sich die große Mehrheit der Themen, die sowohl Gegenstand sozialer Organisationen als auch der Repression sind, um den Komplex „Land und Territorium“. Obwohl viele der Fälle mit dem seit Jahrzehnten ungelösten Agrarproblem zu tun haben, werden weiterhin Fälle deutlich, die in Bezug zu „(wieder-)angeeignetem Land“ der Zapatisten nach dem bewaffneten Aufstand stehen. Andere Schwerpunkte der sozialen Kämpfe und Konflikte haben mit einem breiter gefassten Konzept von Territorium zu tun. Wir werden hier lediglich drei Beispiele anführen:
Autobahn und öko-touristische Projekte
Anfang Juni begann in San Cristóbal der Bau der Autobahn, die diese Stadt mit dem ebenso touristischen Palenque verbinden wird. Dieses Vorhaben, ebenso wie der Ausbau und die Internationalisierung des Flughafens in Palenque steht in Verbindung mit der Konkretisierung des „Integralen Zentrums Palenque-Agua Azul“ (CIPP), das von der chiapanekischen Regierung als „erstes öko-archäologisches Entwicklungsprojekt“ dargestellt wird.
Die Brennpunkte im Hinblick auf den Widerstand der Bevölkerung gegenüber diesen Projekten haben zugenommen, insbesondere in Mitzitón, im Landkreis San Cristóbal de Las Casas, und in San Sebastián Bachajón. Anfang Juli wurden fünf der sieben Tseltal-Indígenas aus letztgenannter Gemeinde freigelassen, die vergangenen April während verschiedener Polizeiaktionen festgenommen worden waren. Sie gaben bekannt, gefoltert worden zu seien, um zu gestehen, dass sie an Überfällen auf der Landstraße zwischen San Cristóbal und Palenque beteiligt gewesen seien. Das CDHFBC setzte ihre Festnahme in einen anderen Zusammenhang und erklärte:
„Die Gemeinden im Landkreis San Sebastián Bachajón, Anhänger der Anderen Kampagne, sind Teil der indigenen Bewegung, die sich den neoliberalen Vorhaben wie Landenteignungen und Raub an Naturressourcen widersetzen. Die Region Agua Azul ist seit vielen Jahren ein Touristenzentrum, dessen zahlreiche Eigenschaften von auswärtigen Interessen ausgenutzt werden , die denen der Tseltal-Indígenas von Bachajón fern sind.“
Hohe Stromtarife
Nicht nur auf lokaler Ebene wächst die Organisation der Betroffenen (40% der Strombezieher in Chiapas zahlen ihre Rechnungen nicht). Vertreter von 20 Organisationen aus sieben mexikanischen Bundesstaaten gründeten im Mai in San Cristóbal das „Nationale Netzwerk des zivilen Widerstands gegen hohe Stromtarife“. Als Folge des gemeinsamen Auftretens dieses Zusammenschlusses („Wenn es einen trifft, sind wir alle gemeint“) war die Festnahme von fünf Personen in Campeche Anfang Juli, die die Zahlung der Stromrechnung verweigerten, der Auslöser von Solidaritäts- und Protestaktionen in anderen Teilen des Landes.
Bergbau
Ein anderes Thema, das weiterhin zu Mobilisierungen führt ist der Bergbau. Mitte April organisierten ca. 3.000 Katholiken aus verschiedenen Landkreisen des Zentralgebirges von Chiapas eine Demonstration, um die Rücknahme von 56 Konzessionen zu fordern, die an kanadische und US-amerikanische Unternehmen vergeben worden waren.