FOKUS : Die Tragödie der internen Zwangsvertreibung in Mexiko- eine der vielen ausstehenden Aufgaben der neuen Regierung
20/10/2018Aktivitäten von SiPaz (Von Mitte Mai bis Mitte August 2018)
20/10/2018In einem plurikulturellem Staat wie Chiapas, welches neben Oaxaca landesweit die größte Diversität an indigenen Volksgruppen beherbergt, ist der Kampf für das Recht der Selbstbestimmung und Autonomie der Völker[1], ein historischer, welcher bereits in den 90er Jahren sich als eine zentrale Forderung der Zapatisten in den Abkommen von San Andrés über die Rechte und die indigenen Rechte und Kultur wiederspiegelte.
In diesem Wahlkampfjahr haben sich in diesem Kontext besonders drei chiapanekischen Gemeinden hervorgetan, welche nach einem langen Prozess der Organisation, zum Aufbau von Gemeinderegierungen nach ihren eigenen Regelungssystemen vorangeschritten sind: Oxchuc, Chilón und Sitalá. Wobei in Oxchuc, als Einzelfall in Chiapas, die Kommunalwahlen offiziell ausgesetzt wurden, bis das Nationale Institut für Anthropologie und Geschichte (INAH) das vom Wahlgericht des Staates Chiapas (IEPC) angeordnete Urteil abschließt um festzustellen, ob die Wahlen von nun an nach dem System der „Usos y Costumbres“ ablaufen werden.
Rechtsanwältin Ivette Galván García, Koordinatorin der Strategischen Rechtsstreitkommission in der Mission von Bachajón und Begleiterin der Rechtsverfahren in den Fällen Chilón und Sitalá, betont, dass „um über die Anfänge der Gemeinderegierungen sprechen zu können, man gleichzeitig auch über die Kämpfe in Chiapas sprechen muss“, da „die Verteidigung der politischen Autonomie durch den Aufbau von Gemeinschaftsregierungen auch ein Kampf für die Verteidigung des Territoriums ist.“ Galvan zeichnet den Beginn der Bewegung in diesen Gemeinden im Jahr 2015 mit einer wichtigen politischen Positionierung mit der Nullstimme nach, die eine Reaktion auf die von politischen Parteien verursachte Spaltung und Störung der Gemeinschaftsharmonie, des „lekil kuxlejalil“ im tseltal, war.
Auf der Suche nach einem neuen Weg begann Anfang 2016 eine Reihe von Gesprächen in den Gemeinden Chilón und Sitalá mit der Begleitung der Mission von Bachajón, insbesondere mit ihrer Menschrenrechtsabteilung, dem Zentrum für Indigene Rechte AC (CEDIAC). Diese „Dialoge des Wissens“ sollten ein Raum für die Gemeinden sein, um über ihre alten Organisationsformen zu reflektieren und eine neue Regierungsform zu konzipieren, die das soziale Gefüge stärken, mehr Transparenz schaffen und die Wege der Gemeinden respektieren würde.
Die nächste Phase der Systematisierung der Fortschritte der Gespräche fand zeitgleich mit dem Erfahrungsaustausch mit anderen Völkern statt, wie z.B. Cherán, ein paradigmatischer Fall des Kampfes um politische Autonomie in Mexiko. Sie erhielten im November 2016 auch die Unterstützung der Bewegung zur Verteidigung von Leben und Territorium (MODEVITE), die im Anschluss an ihre 15-tägige Pilgerreise die Achtung ihrer „Einrichtungsfähigkeit“ und die Anerkennung ihrer „Gemeinschaftsformen der Ausübung von Regierung und Autorität“ forderte.„Die Gemeinschaftsorganisation ist unsere Waffe gegen die Spaltung, das Mittel gegen die Angst und die Hoffnung unserer Völker,“ fügten sie bei einer offiziellen Stellungsnahme hinzu.
Laut Galván waren diese Schritte „die Grundlage der Reflexion, die 2017 mit der Wahl von Positionen für die Gemeinderegierungen in jeder der Versammlungen in den Gemeinden konkretisiert werden sollte.“ Diese gewählten „Promotoren der Gemeinderegierungen“ waren diejenigen, die für ihre Gemeinschaften verantwortlich waren, und reichten den Antrag bei der IEPC ein, was „in eine Wahl der Gemeindebehörden durch das System der ‚Usos y Costumbres‘ und eine Ausübung der Gemeindeverwaltung auf der eigenen Weise der Tseltales übersetzt werden könnte.“
Aber nach der gerichtlichen Aufarbeitung der Fälle am 22. Januar 2018 ergaben sich mehrere Hindernisse mit der Behörde, die auf das im Wahlgesetzbuch des Staates Chiapas bestehende legislative Vakuum bei der Anerkennung und Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung zurückzuführen sind. Galván kommentiert, dass die geschaffenen Netzwerke von aktiven Anwälten, welche diese Art von Fällen begleiten, in dem Fall sehr nützlich waren. Das ist auf den Präzedenzfall Cheráns im Jahr 2011 zurückzuführen, wo die Oberkammer des Wahlgerichts der Judikative der Föderation (TEPJF), das verfassungsmäßige Recht der Völker auf ihre Selbstbestimmung anerkennt, was eine verbindliche Rechtsprechung für die Staatsorgane von Chiapas darstellt. Deshalb stellte Galván klar, dass dieser Fall „nicht etwas ist, dass sie angehen können oder nicht. Dadurch dass es sich hier um eine Menschenrechtsfrage handelt, sind sie verpflichtet zu handeln, weil es einen umfassenderen Schutz für die indigenen Völker gibt“.
Im Mai dieses Jahres fanden in Chilón und Sitalá Zeremonien zur „Saat der Ämter“ des SprecherInnenrates der Gemeinderegierung statt, was laut einem Ratsmitglied aus Chilón eine „alte Zeremonie ist, die unsere Großeltern bereits gefeiert haben und die derjenigen ähnelt, die wir in unseren Mais-Milpas machen.“ Es ist bemerkenswert, dass sechs von zwölf Mitgliedern in Chilón und drei von acht Mitgliedern des Sprecherrats in Sitalá Frauen sind, was die Einhaltung der Geschlechtergerechtigkeit und die Stärkung der Beteiligung von Frauen am Gemeinschaftsleben zum Ziel hat. Obwohl sich die Gemeinderegierungen noch in einem rechtlichen Anerkennungsprozess befinden und die Permanente Kommission für Bürgerbeteiligung die Konsultationen für Chilón bis Oktober bzw. Sitalá bis September 2019 geplant hat, haben die Ratsmitglieder in ihren Reden ihre Verantwortung für ihre Gemeinden übernommen und die Anerkennung einer Pluralität von Demokratien gefordert, in denen sie nicht „neue Gouverneure, sondern eine andere Art der Regierung“ suchen. Es bleibt abzuwarten, wie die Koexistenz der Gemeinderegierungen mit den am 1. Juli gewählten Kommunalregierungen vonstatten gehen wird. In beiden Gemeinden gab es immerhin noch eine Bürgerbeteiligung von 68,2% an den Wahlen, nach denen in Chilón ein Bürgermeister der Partei morena und in Sitalá eine Bürgermeisterin der Partei Mover a Chiapas gewählt wurden.
Kritische Stimmen befürchten die Schaffung eines „Landes parallel zu Mexiko“, das eine Bedrohung für die nationale Einheit darstellen würde. Aber Galván sagt, dass der Kampf um die Selbstbestimmung „im Wesentlichen der Kampf für die Demokratie in Mexiko und für eine Neugründung des mexikanischen Staates“ ist. Für sie ist es eine Frage der tatsächlichen Gültigkeit der Abkommen von San Andrés und einer Neuordnung der Beziehungen zu den Völkern, so dass „sie nicht mehr als Subjekte von öffentlichem Interesse behandelt werden, sondern als Subjekte mit spezifischen Rechten, die ihre eigene Geschichte gestalten“. Diese beiden Erfahrungen von Chilón und Sitalá waren nicht die ersten Prozesse des Aufbaus der Autonomie im Staat Chiapas, denn in diesem Jahr jährte sich des 15. Jubiläum der Zapatistischen Autonomen Gemeinden der Rebellen (MAREZ) im Caracol von Morelia. Ebenfalls in diesem Jahr versuchte der Indigene Nationalkongress, María de Jesús Patricio Martínez als unabhängige Kandidatin für die Präsidentschaft Mexikos zu nominieren.
Angesichts des Eintritts des neuen Kabinetts von Andres Manuel López Obrador sagt Galván, dass es eine Gelegenheit sein könnte, die nationalen Kämpfe, die auf lokaler Ebene stattfinden, zu stärken, Kommunikationskanäle zu schaffen und mit den lokal existierenden Cacicazgos zu brechen. Auf jeden Fall betont sie, dass „egal wer im Staat die Macht übernimmt, die Menschen weiterhin lokal organisieren müssen“. Dies spiegelt die Worte der Ratsmitglieder von Chilón wider, die in der Zeremonie der Saat der Ämter aussprachen: „Was heute in unsere Herzen gesät wurde, wird nach und nach im Leben unseres Volkes aufkeimen, damit kein Regierender das Volk täuscht!“.
Annotationen:
[1] Die UNO bezeichnet dieses spezifische Recht indigener Völker in einigen Resolutionen als „das Recht, ihren politischen Status frei und ohne Einmischung von außen zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verfolgen“. Neben dem Recht auf Selbstbestimmung ist das Recht auf politische Autonomie, das Amnesty International als „das Recht bezeichnet, die eigenen Gesetze oder Lebensstandards zu definieren, sei es schriftlich oder mündlich.“