FOKUS: Megaprojekte im Südostens Mexikos; Widerstand der indigenen Gemeinden zur Verteidigung von Territorien und dem Leben
11/07/2023Aktivitäten von Sipaz (Von Mitte Februar bis Mitte Mai in 2023)
11/07/2023Ich sage deinen Namen mit all der Stille jener Nacht,
mein Herz es schreit ihn wie geknebelt aus.Ich wiederhole deinen Namen, ich sage ihn immer wieder,
ich sage ihn unermüdlich,
und bin mir sicher das die Sonne aufgehen wird.
I st „verschwinden“ ein Verb, das sich auf Personen anwenden lässt? Logischerweise wäre die Antwort Nein, zumindest nicht außerhalb des Bereichs der Illusion und der Magie. Die Realität hat jedoch das Unvorstellbare übertroffen.
Verschwundene*r, dieser Begriff ist in unserem täglichen Leben immer präsenter. Jeden Tag finden wir in den Medien und auf den Straßen eine beklagenswerte Anzahl von Suchmeldungen mit Hilferufen verzweifelter Familien, die einen geliebten Menschen suchen.
Das Verschwindenlassen ist eine der extremsten Methoden von Gewalt. Ganze Familien wurden durch die Ungewissheit und den Schmerz, nicht zu wissen, was mit ihren Angehörigen geschehen ist, am Boden zerstört. Wie Elena Poniatowska erwähnt, „bedeutet das Verschwinden eines Kindes für eine Mutter einen Raum ohne Atempause, eine lange Qual. Es gibt keine Resignation oder Trost, keine Zeit, um die Wunde zu heilen. Der Tod tötet die Hoffnung, aber das Verschwinden ist unerträglich, weil es weder tötet noch leben lässt“.
Das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen in Mexiko hat seinen Ursprung in dem sogenannten „Schmutzigen Krieg“, allerdings wurde diese Praktik aufrechterhalten und ist nicht mehr nur ein ausschließliches Instrument der Regierung. Mittlerweile hat jene Praktik extrem gewalttätige Auswirkungen angenommen und verfolgt verschiedene Ziele, die von der Schaffung von Angst bis hin zur Rekrutierung und dem Handel mit Menschen reichen. Es kommt in verschiedenen Zusammenhängen und von verschiedenen Akteuren vor; oft noch als Terrorstrategie des Staates, zu der „das Verschwindenlassen durch Gruppen des organisierten Verbrechens und Drogenkartelle, in vielen Fällen unter Mitwirkung von Staatsbeamt*innen“ hinzukommt, wie es im Bericht „Enforced Disappearances in Mexico: A look from the United Nations System Agencies“ heißt.
Ebenso erwähnt Human Rights Watch in seinem Weltbericht 2023, dass „seit dem Beginn des „Krieges“ gegen das organisierte Verbrechen im Jahr 2006 die Gewaltverbrechen in Mexiko dramatisch angestiegen sind und während der Regierung von Andrés Manuel López Obrador historische Werte erreicht haben. Während die Behörden diese Gewalt oft den kriminellen Kartellen zuschreiben, werden die meisten Verbrechen nicht untersucht und die Verantwortlichen werden nie identifiziert und strafrechtlich verfolgt„.
Während dieser sechsjährigen Amtszeit haben wir auch die verstärkte Präsenz von Streitkräften im Land mit der Begründung erlebt, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Diesbezüglich heißt es in dem Bericht: „Soldaten, Polizisten und Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft haben in großem Umfang schwere Menschenrechtsverletzungen begangen, darunter Folter, gewaltsames Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen, und das fast ungestraft“. In mehr als 100.000 Fällen wurden zwischen 35 und 40 Urteile wegen des Verschwindenlassens von Personen ausgesprochen.
Bis zu dem heutigen Tag wird angenommen, dass es laut offiziellen Zahlen mehr als 112.000 verschwundene Personen in Mexiko gibt und mehr als 52.000 nicht identifizierte Körper. Nimmt man noch die Tatsache hinzu, dass laut Statistik „etwa 90 % der Verbrechen nie angezeigt werden, ein Drittel der angezeigten Verbrechen nie untersucht wird und weniger als 16 % der Ermittlungen ‚aufgeklärt‘ werden, könnte die Zahl noch höher liegen“, heißt es in demselben Bericht.
Angesichts dieses Panoramas und der Notwendigkeit für die Familien, Antworten zu finden und Gerechtigkeit zu erlangen, sind in dem Land mindestens 130 Suchgruppen entstanden, die sich zumeist aus Angehörigen von verschwundenen Personen zusammensetzen. Viele von ihnen werden von Müttern geleitet, die unermüdlich nach ihren Kindern suchen und sogar in den mehr als 4.000 illegalen Gräbern graben, die in ganz Mexiko gefunden wurden. Sie mussten sich in verschiedenen Disziplinen ausbilden lassen, unter anderem in Forensik.
Neben den Aufgaben der Suche, der Verbreitung von Informationen, der Forderung nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung, Nichtwiederholung und Erinnerung haben die Kollektive der Angehörigen von Verschwundenen die Notwendigkeit erkannt, sich öffentliche Räume anzueignen, um die schwere Krise, die das Land durchlebt, sichtbar zu machen. In verschiedenen Bundesstaaten der Republik gibt es Gedenkstätten, Denkmäler, Kreisverkehre und verschiedene Orte, an denen an die Vermissten erinnert wird, wie die Glorieta de las y los Desaparecidos in Mexiko-Stadt. Bei manchen Gelegenheiten gehen sie auch auf die Straßen der Städte, um uns daran zu erinnern, dass uns mehr als 100.000 fehlen und dass sie nicht aufhören werden, bis sie gefunden werden.
Durch diese Arbeit sind die Familien einem hohen Risiko ausgesetzt, was wiederum eine enorme Gefahr für sie darstellt. Bis heute sind mehr als 10 suchende Mütter getötet worden. Doch trotz der Herausforderungen, Bedrohungen und der erneuten Viktimisierung, denen sie ausgesetzt sind, kämpfen die Familien der Opfer und die Aktivist*innen zusammen mit Menschenrechtsorganisationen weiter. Dank ihrer Arbeit und des von ihnen ausgeübten Drucks ist es ihnen gelungen, Netzwerke wie die Bewegung für unsere Verschwundenen in Mexiko und andere zu fördern, die versuchen, die Fälle sichtbar zu machen, Gerechtigkeit zu fordern und wirksame öffentliche Maßnahmen zur Verhinderung und Lösung dieses Problems zu fördern.
Darüber hinaus wurden Mechanismen wie die Nationale Kommission für die Suche nach Personen eingerichtet und Änderungen im rechtlichen Bereich gefördert, wie das Allgemeine Gesetz über das gewaltsame Verschwindenlassen und das Standardprotokoll für die Suche. All diese Maßnahmen zielen darauf ab, die Suche nach vermissten Personen und deren Identifizierung zu koordinieren.
Es gibt noch viel zu ändern, neue Gesetze und Gremien zu schaffen, um diese Krise umfassend anzugehen, aber es ist von größter Bedeutung, anzuerkennen, was die Familien auf diesem Weg erreicht haben.
Chiapas: Eine kritische Sicht auf die schmerzhafte Wahrheit der Verschwundengelassenen
In Chiapas, einem der ärmsten und am stärksten marginalisierten Bundesstaaten Mexikos, ist die Situation hinsichtlich des Verschwindenlassens von Personen besonders besorgniserregend. In dieser Region haben sozioökonomische Ungleichheit, territoriale Konflikte und politische Spannungen zu einem Klima beigetragen, das Gewalt, den Zusammenbruch des sozialen Gefüges und Straflosigkeit begünstigt. Außerdem ist Chiapas aufgrund seiner strategischen Lage im Zentrum von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen des organisierten Verbrechens, was zu einem Anstieg von Verbrechen wie Entführungen und Verschwindenlassen geführt hat.
Gegenwärtig sind die Zahlen im Bundesstaat nicht eindeutig, da, wie auf nationaler Ebene, aufgrund von Angst und mangelndem Vertrauen in die Behörden nicht alle Fälle gemeldet werden. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas hat 1.314 Fälle registriert; die Organisation Melel Xojobal hat mindestens 1.831 Fälle des Verschwindenlassens von Kindern unter 18 Jahren zwischen 2018 und 2021 dokumentiert. Voces Mesoamericanas Acción con Pueblos Migrantes hat seinerseits mehr als 350 Fälle von verschwundengelassenen chiapanekischen Landarbeitern*innen gezählt. Diese Organisationen sind sich einig, dass das Verschwindenlassen in den letzten vier Jahren exponentiell und stetig zugenommen hat. Es wird geschätzt, dass diese Zahlen noch viel höher liegen könnten.
In Chiapas, sind seit Neuem die Familien und Menschenrechtsverteidigungsorganisationen, diejenigen welche angesichts dieser Krise Stärke zeigen. So wurde 2010 das Komitee Junax Ko‘tantik mit Familien von verschwundenen Migrant*innen aus Chiapas gegründet. Ebenso wie die Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen in Chiapas, die die Behörden aufforderte, „das Problem anzuerkennen und zusammenzuarbeiten, um sie zu finden und die Krise zu beenden“. Sie wiesen auch auf die Notwendigkeit hin, sowohl in der Staatsanwaltschaft gegen das Verschwindenlassen als auch in der Staatlichen Fahndungskommission eine Abteilung für Kontextanalyse einzurichten, um Klarheit darüber zu erhalten, was geschieht und zu welchem Zweck.
Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer und ihre Familien ist eine dringende und notwendige Aufgabe. Die Suchkollektive im ganzen Land spiegeln das Fehlen von Ergebnissen seitens der Regierungen wider; sie sind aber auch ein Symbol dafür, dass vieles möglich ist, wenn der Wille vorhanden ist. Sie sind ein Beispiel für Stärke, Kampf, Hoffnung, Einigkeit und vor allem Liebe.
#BisSieGefundenWerden