FOKUS: Zwischen Abholzung und halber Wiederaufforstung – Mexiko, ein Land, das Ökozide zulässt
04/10/2019Aktivitäten von SIPAZ (Mitte Mai 2019 bis Mitte August 2019)
04/10/2019Offensichtlich ist die Not so groß, dass es die Aufgabe des Staates wäre, dafür zu sorgen, dass die Familien ihr Zuhause haben, damit sie ihren Besitz zurückerlangen können.
Die Nacht des siebten Septembers 2017 wurde zu einem einschlagenden Moment im Leben zehntausender Menschen, als ein Erdbeben der Stärke 8,2 auf der Richterskala die Küste von Chiapas und Oaxaca erschütterte und dabei 102 Personen tötete sowie Tausende ohne Zuhause und die Region im Chaos zurückließ.
Doch inmitten all dieses Horrors und der Angst entstand etwas, das sich in den folgenden zwei Jahren zu einer der treibenden Kräfte innerhalb des Prozesses des langen, erschöpfenden und doch würdevollen Wiederaufbaus entwickeln sollte: die gemeinschaftliche Solidarität.
Die Auswirkungen dieser Nacht sind heute immer noch sichtbar und vielerorts spürbar. Während die offensichtlichsten Anzeichen der Zerstörung inzwischen beseitigt wurden, fehlt es für einen vollständigen Wiederaufbau an Materialien, Ressourcen sowie an Koordination.
Eine zivile Observationsmission, die einige Tage nach dem Erdbeben in Oaxaca stattfand, betonte, dass „die Grundbedürfnisse der Personen, die vom Erdbeben betroffen sind, nicht erfüllt wurden“. Außerdem kritisierte sie „das Fehlen staatlicher Koordination bei der Verteilung von humanitärer Hilfe und die beliebige Nutzung der wenigen Ressourcen, die in die Zone geschickt wurden“, – ein Muster, das sich im Rahmen der Betreuung der geschädigten Personen immer wieder wiederholte und dessen Folgen sich im ungleichen Verlauf der Wiederaufrichtung äußern.
Der Ursprung dieser Ungleichheiten sind Fehler, die von Beginn an gemacht wurden. Es wurde nicht nur bei der Verteilung humanitärer Hilfe versagt, sondern auch bei der Zählung der Opfer sowie bei der Zuteilung der Geldmittel. Zivile und soziale Organisationen prangerten an, dass Familien, deren Besitz zu Schaden gekommen war, bei der Zählung nicht mit einberechnet wurden und somit auch nicht bei der Verteilung der Geldmittel für den Wiederaufbau berücksichtigt wurden. In anderen Fällen, in denen zwar der Schaden berücksichtigt aber falsch eingeschätzt wurde, wurde somit die Unterstützung für diese Familien begrenzt. Andere Familien erhielten schlichtweg das versprochene Geld nicht, während indessen Personen, die überhaupt nicht von den Folgen der Katastrophe betroffen waren, besagte Mittel zukamen. Vor diesem Kontext hat das Netzwerk Alle Rechte für Alle (Red TDT) im Juni 2018 „festgestellt, dass die Behörden des Bundes und der Länder angesichts der von den Opfern angeklagten Unregelmäßigkeiten sich weder koordiniert noch die ihnen obliegende Verantwortung übernommen haben“.
Durch all diese Umstände entstand eine Situation, in der die Familien, die Schaden genommen hatten, gezwungen waren, nach dem Erdbeben in ungeeigneten Häusern zu leben, sich zu verschulden oder wertvolle Gegenstände zu verkaufen, um mit den Bauarbeiten fortzufahren.
Da eine angebrachte Antwort von Seiten der Behörden ausblieb, wurden zivile Verfahren entwickelt, um die Krise anzugehen und einen gemeinschaftlichen Wiederaufbau zu fördern. In den Tagen nach dem Erdbeben bedeutete dies die kollektive Rettung verschütteter Personen, die Sammlung und Verteilung von Grundnahrungsmitteln sowie die Unterbringung der Betroffenen in sicheren Unterkünften. Nach dem ersten Moment der Einheit und der gegenseitigen Hilfe entwickelte sich, in manchen Fällen, beides zu einem andauernden Prozess der Gemeinden.
Ein Beispiel dafür ist der Rekonstruktionsprozess, der vom Zentrum für Menschenrechte Digna Ochoa in den Gemeindebezirken Arriaga, Tonalá und Pijijipan in Chiapas organisiert wurde. Wie viele andere Organisationen und individuelle Personen reagierten sie auf die Krise, indem sie humanitäre Hilfe anboten und die medizinische sowie die psychologische Versorgung koordinierten.
„Und außerdem haben wir kulturelle Aktivitäten zur Erholung, um Themen wie Stress und Angst anzugehen, mit medizinischen Versorgungsbrigaden gefördert, indem wir alle Aktivitäten und Aktionen zur Verbesserung der inneren Situation kombiniert haben, denn zu dieser Zeit gab es nicht nur Angst. Es hab Schrecken, Anspannung, es gab wirtschaftliche Komplikationen. Es gab nicht genug Essen, weil es keine Arbeit gab und so weiter. Es geschahen verschiedene Dinge.“, erklärte Nathaniel Hernández, Direktor von Digna Ochoa, in einem Interview mit SIPAZ.
Am Anfang des Wiederaufbaus besuchten sie die betroffenen Gemeinden, um eine eigene Zählung durchzuführen und die Auswirkungen des Erdbebens einzuschätzen. „Als wir erst einmal das Ausmaß der Sachschäden kannten, konnten wir festlegen, wo der Fokus unserer Arbeit an der materiellen und sozialen Rekonstruktion liegen sollte“. Ein essentieller Teil des Projekts ist die Beteiligung der Gemeinde, die teilweise durch ein Wiederaufbaukomitee gesichert ist, das aus Bewohnern der Gemeinde besteht. Es ist eine Methode, um „die Bedürfnisse jeder Familie der Gemeinden aus erster Hand zu erfahren und eine intensivere Kommunikation zu etablieren“. Ein weiteres Element ist die komplette Transparenz der Gelder auf den Konten des Zentrums für Menschenrechte und die spezifischen Kosten für den Wiederaufbau der Häuser. „Schließlich wurde vorgeschlagen, dass die Familien in den Gemeinden, in denen Mittel bereitgestellt wurden, den Prozess der körperlichen Arbeit unterstützen sollten“. So erreichte man den Wiederaufbau von ungefähr 150 Häusern, während 38 weitere noch ausstehen.
Im März diesen Jahres kündigte die Regierung von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) an, dass sie dieses Jahr den Wiederaufbau nach dem Erdbeben mit einem Budget von 10 Milliarden Pesos finanzieren würden. Davon sollen in einer ersten Etappe 2,7 Milliarden Pesos nach Chiapas und 4,7 Milliarden Pesos nach Oaxaca gehen. Auch wenn zivile Organisationen neue Bewegung beobachten, führt der Vorschlag die Fehler der vorherigen Regierung fort, indem er dieselben Zählungen nutzt und damit dieselben Leute ausschließt, die schon beim ersten Mal ausgeschlossen wurden „und die bis heute immer noch auf eine Reaktion der aktuellen Regierung warten, um auf die öffentlichen Mittel zuzugreifen“. Der Handlungsspielraum der Nichtregierungsorganisationen ist in diesen Fällen eingeschränkt, da „es ein Thema ist, in das keine Gelder mehr investiert werden“. Um die geschädigten Familien nicht ohne irgendeine Form von Hilfe stehen zu lassen, teilt Digna Ochoa mit ihnen Informationen über den Rekonstruktionsplan. Zudem „teilen wir den Behörden unsere Zählung mit, damit sie in Betracht gezogen werden können“.
Letztendlich ist der gemeinschaftliche Wiederaufbau vor dem Hintergrund der schwerwiegenden Fehler der Behörden, der Tatsache, dass die Betroffenen gezwungen sind „Hilfe anzunehmen, die nicht ihrer Realität entspricht“ und des anhaltenden Traumas dieser Nacht mehr als nur ein alternativer Weg. Es ist ein Vorgehen, dass die Opfer des Erdbebens und ihre Bedürfnisse respektiert. Es ist eine Art, bereits existierende soziale Gefüge zu nutzen und zu verstärken. Und vor allem ist es ein Hoffnungsschimmer in einem Prozess, der häufig ohne ein Ende in Sicht erscheint.