SIPAZ-Aktivitäten (Von Oktober 2005 bis 15. Januar 2006)
31/01/2006ANALYSE : Méxiko – Unsicherheiten nach den Wahlen
31/07/2006Im Januar erhielten wir eine Anfrage des Menschenrechtszentrums Fray Matías de Córdoba (Tapachula im Küstengebiet von Chiapas) mit der Bitte um Unterstützung, damit eine Beobachtungsmission in vom Hurrikan Stan betroffenen Gebieten durchgeführt werden konnte.
Im vergangenen Oktober hat Stan Städte und Dörfer in Mexiko und Mittelamerika zerstört. In der Küste und in den Bergen von Chiapas haben starke Überschwemmungen über 22 000 Wohnungen und Häuser komplett zerstört und um die 19 000 stark beschädigt.
Obwohl SIPAZ diese Regionen eigentlich nicht abdeckt, da wir unsere Aktivitäten auf das so genannte „Konfliktgebiet“ konzentrieren, entschieden wir uns, dem Aufruf des Menschenrechtszentrums Fray Matías Folge zu leisten, denn die Folgen der Verwüstung durch Stan werden lange anhalten und den Bundesstaat in seiner Gesamtheit betreffen.
Die Beobachtungsmission wurde vom 8. bis 15. Januar, drei Monate nach der Katastrophe durchgeführt. Obwohl das Schlimmste längere Zeit her ist, sieht die Landschaft weiterhin bedrückend aus: Orte, die aussehen wie Strand ohne Meer, voller Sand und großen Steinen, weite, leere Landstriche, die von Wasserläufen durchzogen sind… Aus der Höhe der Berge, auch wenn die Farben grau und blau dominieren, denke ich an den Titel des bekannten Buches von Eduardo Galeano: „Die offenen Adern Lateinamerikas“…
Wir erfuhren von ganz unterschiedlichen Erfahrungen, die uns von den schlimmsten, aber auch schönsten Situationen in der Not berichteten. Die Leute erzählen, dass früher hier mal ihr Dorf war, ihr Haus, ihr Mangobaum oder Bananenstrauch. Im Moment des Hurrikans haben viele Leute einander geholfen, um sich gegenseitig vor den Fluten zu retten. In vielen der kleinen, abgelegenen Dörfer teilen die Menschen weiterhin das wenige, was sie zu essen haben, sie teilen den Hunger und die Kälte. Gemeinsam beginnen sie damit, Häuser wieder aufzubauen.
In den über Straßen erreichbaren Orte kamen Hilfslieferungen schneller an. Viele Leute erzählten uns, sie hätten erste Hilfen von der Caritas und den katholischen Kirchen bekommen. Später erreichten sie Hilfen der Zivilbevölkerung aus anderen Bundesstaaten Mexikos. Andererseits hörten wir aber auch Klagen wie „ich bekam ein unvollständiges Lebensmittelpaket“ oder „mir wurden meine Tiere geklaut“. Fehlende Solidarität und Individualismus waren besonders in den Großstädten zu erleben, besonders in der größten Stadt Tapachula: Bewaffnete Gruppen plünderten Häuser und Geschäfte oder überfielen Lastwagen mit Lebensmittelhilfen. Andere Leute verteidigten mit Gewalt ihren Besitz. Einige Geschäfte nutzten die Not, um ihre Preise für Grundnahrungsmittel anzuheben.
Nach dieser Beobachtungsmission sprachen wir mit der Junta de Buen Gobierno (Rat der Guten Regierung, lokale Regierung der Zapatistas) in la Realidad, welche für das von Stan betroffene Gebiet zuständig ist. „Viele unserer UnterstützerInnen sind betroffen“, sagten sie uns. „Einige haben ihre Häuser verloren, ihre Felder, ihr Land. Sie haben sich in Notunterkünften in Huixtla, Belisario Domínguez, Motozintla und Comalapa versammelt. Wir haben viel Solidarität der mexikanischen und internationalen Zivilgesellschaft und unserer eigenen Gemeinden erhalten. (…). Wir haben auch Gesundheitsbrigaden geschickt. Daran nahmen engagierte Ärzte und Gesundheitsförderer anderer Dörfer teil, um ihre Solidarität zu zeigen.“ Sie weisen auf Fortschritte hin: „Die meisten Leute sind in ihre Heimat zurückgekehrt oder zu Verwandten gezogen. Denen, die ihr Haus wiederaufbauen wollen, haben wir Baumaterial geliefert.“ Trotzdem halten die Schwierigkeiten an, darunter: „Viele der Leute leben in Risikogebieten. Wir haben sie eingeladen, lieber ihre Heimat zu verlassen und zu uns in den Urwald zu kommen, wo wir zurückerobertes Land haben. Aber das ist sehr schwierig, die compas (Kameraden) sind an ihr Land gewöhnt und wollen nicht weg. Also, wenn sie dort wieder aufbauen wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als ihre Entscheidung zu respektieren.“
Mexikanische Regierungsfunktionäre geben zu, das „Stan“ all ihre Sicherheitsvorkehrungen zunichte gemacht hat. Unterwegs sahen wir viele Personen, die mit Maschinen am Wiederaufbau von Straßen und Brücken arbeiten. Viele Monate nach der Katastrophe sind nur geringe Fortschritte zu erkennen. Von den meisten Betroffenen erfahren wir, dass die Regierungen Versprechungen machen, die fast nie eingehalten werden. Es gibt auch Aussagen und Gerüchte über den Verkauf von Lebensmittelhilfen und über Lokalpolitiker, die Lebensmittel und Baumaterialien versteckt aufbewahren. „Ich habe Säcke mit Lebensmitteln in der Polizeistation gesehen“, erzählt uns eine Frau in Mapastepeque, „sie beschimpften mich, weil ich geschaut habe …“ Es ist beunruhigend, dass diese Hilfen für den kommenden Wahlkampf genutzt werden können. Das Gebiet wird, wegen der extremen Verwundbarkeit der Bevölkerung, als botín electoral (Wahlbeute) bezeichnet.
Die Lokalpolitiker verteidigen sich: z.B. in Acacoyagua, wo man Gerüchte hört, der Bürgermeister sollte entführt werden: „Wir haben schon viele Hilfsmittel verteilt, wir bauen die Straßen neu auf, aber es gibt immer unzufriedene Leute“.
Man befürchtet auch, dass Politiker die Situation ausnutzen, um andere wirtschaftliche und politische Pläne durchzusetzen. Eine Gruppe von Betroffenen in den Bergen sagte uns: „Die Regierung will uns an die Küste umsiedeln. Wir haben den Verdacht, dass sie uns vom Land des Naturreservats wegholen wollen, da es dort Bodenschätze gibt.“
Man beschuldigt sich gegenseitig. Es wird hinterfragt, ob und inwieweit Autoritäten, verschiedene Organisationen und die Kirchen nur ihre eigenen Leute bevorzugen. Der Wiederaufbau dauert dadurch natürlich sehr viel länger.
Wer Angehörige oder Freunde in den USA hat, versucht dorthin auszuwandern. Die „coyotes“ (Menschenhändler) verlangen 20 000 bis 30 000 Pesos (1 Euro= 12 bis 13 pesos) für die Reise. Bedauerlicherweise scheint für viele das Auswandern in andere Teile des Landes oder in die USA der einzige Ausweg zu sein.