FOKUS: Wo sind sie? Die Situation des gewaltsamen Verschwindenlassens in Mexiko
20/05/2016Aktivitäten von SIPAZ (Von Anfang Januar bis Ende März 2016)
20/05/2016“Sie sagen über uns, wir seien Verteidigerinnen, aber wir sind nur Mütter, die ihre Kinder suchen, Familien, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, suchen.“
Sofort nach der Benachrichtigung über die Festnahme von Rosendo Radilla im Jahr 1974, machte sich seine Familie auf die Suche nach ihm. Seine Frau und seine Töchter durchkämmten Regierungsbüros, Gefängnisse und Krankenhäuser. Als sie ihn nicht fanden, veröffentlichten sie Anzeigen, organisierten Demonstrationen, Veranstaltungen und Protestaktionen, um Druck auf die Regierung auszuüben, damit Rosendo wieder auftaucht.
Aktionen wie solche sind unter Familien von vermissten Personen fast schon gewöhnlich. Der Schmerz durch den Verlust einer Person, die Unsicherheit über ihren Aufenthaltsort und ihren Gesundheitszustand, sowie das Fehlen einer brauchbaren Antwort von Seiten der Autoritäten, motivierte die Familien, sich rund um die Suche und die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu organisieren. Viele der Familien nahmen die Suche selbst in Angriff. Ein gutes Beispiel dafür sind die Mütter und Väter im Fall der 43 verschwundenen Studenten aus Iguala oder auch die Entdeckungen von versteckten Gräbern, die von Familien der Opfer in verschiedenen Bundesstaaten Mexikos gefunden wurden.
Aktuell gibt es in ganz Mexiko mehr als vierzig Organisationen und Familienkollektive von verschwundenen Opfern. Eine der Gruppen ist das „Komitee der anderen Verschwundenen von Iguala, Guerrero“. Vernetzt mit mehr als 500 Familien realisieren sie wöchentlich einen “Suchtag“ nach versteckten Gräbern in den angrenzenden Hügeln. Bei ihren Treffen teilen sie ihre Trauer, wie z.B. ihre Geliebten morgens zur Arbeit gingen und nicht mehr nach Hause kamen, wie sie auf einem Polizeiposten festgehalten wurden und man nichts mehr von ihnen in Erfahrung bringen konnte, oder wie bewaffnete Personen sie zu Hause überraschten und mitnahmen.
Später statteten sie sich mit Schaufeln und Hacken aus, um in der Umgebung nach Anzeichen von möglichen Gräbern zu suchen. Kurze Zeit nach Beginn ihrer Aktivitäten verbat der Staat diese Suche mit dem Argument, dass sie die Tatorte oder die Szenarien verfälschen würden. Obwohl die Familien seitdem keine Ausgrabungen mehr vornehmen, orten sie immer noch Gräber, welche sie für die zuständigen Behörden und deren Ermittlungen markieren. Seit ihrer Gründung im November 2014 haben sie mittlerweile nun schon mehr als 90 versteckte Gräber mit 132 Leichen entdeckt. Wegen ihrer unangenehmen Arbeit haben sie nicht nur mit Drohungen und Beleidigungen zu kämpfen, sondern es wurde sogar eines ihrer Mitglieder, Norma Angélica Bruno, im Februar diesen Jahres umgebracht. “Siehst du nicht die Gefahr?“, fragten sie die Mutter eines verschwundenen Opfers, Mitglied des „Komitees der anderen Verschwundenen“. “Mittlerweile ist es mir egal, mein Leben zu geben“, antwortete sie. “Ich bin bereit, mein Leben zu geben um meinen Sohn wiederzusehen.“ Laut der Generalstaatsanwaltschaft der Republik (PGR) wissen sie von circa 150 heimlichen Gräbern in Mexiko.
Ein anderer der beispielhaften Kämpfe auf nationalem Niveau ist der der Familie Radilla, die den Fall des verschwundenen Rosendo vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (Corte IDH) präsentierte. Damit wurde zum ersten Mal in der Geschichte der mexikanische Staat wegen schweren Verletzungen der Menschenrechte beschuldigt und das Militär für das Verschwindenlassen von Personen verantwortlich gemacht. Außerdem wurde festgelegt, dass das wegen Verletzung der Menschenrechte beschuldigte Militär nicht von einem Militärgericht verurteilt werden kann. Stattdessen sollen solche Fälle nun von einem gewöhnlichen Gericht und nicht von einer Militärgerichtsbarkeit bearbeitet werden. Dieses Urteil vom 23.11.2009 war ein Erfolg für die Familien der Opfer des gewaltsamen Verschwindens und hob eines der großen legalen Hindernisse der Ermittlungen und des Schadensersatzes wie das Konfrontieren mit dem undurchdringlichen und unerreichbaren Militärgericht auf. Obwohl das Urteil im Fall Radilla in seinem letztendlichen Ergebnis immer noch offen ist, gibt es mittlerweile einige wenige Resultate zu sehen. Aktuell wird wegen zwei Fällen gewaltsamen Verschwindens gerichtlich gegen eine Militäreinheit und fünf Marineeinheiten vorgegangen. Diese Fälle, auch wenn ihr Anteil bei mehr als 27 000 verschwundenen Personen im Land nur minimal ist, bringen den Familien laut AI “einen Hoffnungsstrahl, Hoffnung, dass sie endlich die Wahrheit kennenlernen, Gerechtigkeit erfahren können und Entschädigungen erhalten“.
Auch ist die Arbeit der „Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“ und ihre Devise „wir haben es satt“ in der Anzeige der Gewalt gegenüber der Bevölkerung frei von Krieg gegen den Drogenhandel hervorzuheben. Seit 2011 verurteilt die Bewegung die Behandlung von Opfern als „Kollaterlaschäden“ und „Ziffern ohne Namen“, und tausende von Bürgerinnen und Bürgern versammeln sich in diesem von Opfern organisierten Prozess, der das Ende des Krieges fordert. Eine der größten hervorzuhebenden Erfolge der Bewegung war die Verkündung des allgemeinen Gesetzes für Opfer, welches einen Rahmen für deren Rechte festlegte und Aktionen für ihren Schutz, Aufmerksamkeit und Schadensersatz garantierte. Trotz der Bildung der Kommission „Vorstand der Aufmerksamkeit für Opfer“ (CEAV)– eine Einrichtung, Opfer zu begleiten- haben bisher wenige Familien davon profitieren können. Viele Betroffene sind der Meinung, dass ihnen bürokratische Hürden zur Bearbeitung der Unterstützung des Schadenersatzes in den Weg gelegt werden. Bisher wurden seit Bestehen der Einrichtung nur 120 Personen finanziell entschädigt, bestätigt die Zeitung Animal Político.
Ein bemerkenswertes Beispiel für die Organisation von Familien verschwundener Angehöriger ist auf der anderen Seite die „nationale Bewegung für Mexikos Verschwundene“. Diese noch junge Bewegung ist das Ergebnis um Bemühungen von Artikulation von mehr als sechzig Organisationen von Familien verschwundener Angehöriger und von circa vierzig Organisationen der Zivilgesellschaft. Nach mehr als vierzig Jahren der Gründung erster Organisationen betroffener Familien haben sie eine gewisse Stigmatisierung aufgrund ihres Kampfes überwunden. Sie halten weiterhin daran fest, dass sie nur auf organisierte Art und Weise genügend Druck ausüben können um Gerechtigkeit zu erreichen. Trotz der verschiedenen Kollektivs- und Organisationsformen mit unterschiedlichen politischen Positionen bilden alle eine Schlüsselfigur bezüglich der Anzeigen der Konsequenzen von gewaltsamem Verschwindenlassen. So zum Beispiel die Lücken und Mängel des Staates in Bezug auf die Suche nach Opfern, als auch die Ermittlung und die Garantie der Rechte der Betroffenen.
Forderungen nach einem „Gesetz des Verschwindens“
Eine der Hauptforderungen der „Nationalen Bewegung für Mexikos Verschwundene“ ist die Verabschiedung eines allgemeinen „Gesetzes des Verschwindens“, welches die Handlungen der Autoritäten aller drei Niveaus- das städtische, das staatliche und das bundesstaatliche- in Bezug auf diese Problematik regelt. So und wie es die UNO von der mexikanischen Regierung verlangte, nehmen die Organisationen betroffener Familien aktuell an der Ausarbeitung dieses Gesetzes teil indem sie ihre Erlebnisse „voll von Schmerz, aber auch mit Weisheit“ beitragen. Diese Erlebnisse verwandeln sich so in wichtige Lektionen, die von der zukünftigen Gesetzgebung aufgenommen werden müssen. Zunächst fordern sie, dass sich das Gesetz an die internationalen Verträge der Menschenrechte anpasst; dass es ein Gutachten über die unverzügliche und effektive Suche der verschwundenen Personen abgibt; dass Register über die Verschwundenen, deren DNA, Körper oder nicht identifizierte Körperteile entstehen und zuletzt, dass das Gesetz einen realen Schadensersatz enthält. Außerdem haben sich verschiedene Organismen dafür ausgesprochen, dass das neue Gesetz die Komplexität des Phänomens und der Urteile, die über Gefängnisstrafe, wie Prävention, Beistand für Familien oder Maßnahmen zur vollständigen Entschädigung, hinausgehen, berücksichtigt. Des Weiteren wurde die gesetzgebende Körperschaft gebeten, „den Fehler nicht zu wiederholen“, den sie bei der Auswertung des „Gesetzes des Verschwindens“, welches ihrer Meinung nach „nichts taugt“ begangen hat. Familien von verschwundenen oder ermordeten Opfern kritisierten die übermäßige Bürokratie um Entschädigungen zu erhalten, weswegen nur 4,5% des vorgesehenen Budgets genutzt wurden.
Angesichts dieser schwierigen Situation in Bezug auf das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen, erahnen die Organisationen betroffener Familien und sich solidarisch zeigende Personen ein Licht der Hoffnung. Weil sie ihre verschwundenen Angehörigen suchen, die oftmals stigmatisiert und beschuldigt wurden, mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung zu stehen, werden die Familien oft als „rebellisch“ beschuldigt. Doch diejenigen sind es, die uns die Dimensionen der Krise erahnen lassen, die die Menschenrechte in Mexiko gerade durchlaufen. Heutzutage sind ihre Stimmen notwendig, um Wahrheit und Gerechtigkeit einfordern zu können, sowohl um den Verbleib der Verschwundenen im ganzen Land herauszufinden, als auch um Entwürfe von Strategien und präventiver öffentlicher Politik zu erstellen, die es schaffen, dieses tragische Phänomen zu stoppen. So urteilte der MPJD an seinem dritten Geburtstag: „heute wollen wir Gerechtigkeit und Erinnerung in diesem Mexiko säen, dass mit der Unfähigkeit und Blindheit der aktuellen Regierung verletzt und den Krieg fortsetzt. Nur mit der Erinnerung und der Wiedereroberung des öffentlichen Raumes für die Bürgerinnen und Bürgern können wir es schaffen, die Angst und Lähmung zu besiegen.“