SCHWERPUNKT: Die Erklärung zur Alarmbereitschaft vor genderspezifischer Gewalt: das Problem verstehen, um es bekämpfen zu können
12/10/2017AKTIVITÄTEN VON SIPAZ (Im Zeitraum von Mitte Mai bis Mitte August 2017)
12/10/2017Am 8. und 9. August fand in Chilpancingo im Rahmen des 23. Jubiläums des Menschenrechtszentrums der Montaña Tlachinollan das Forum über das erzwungene Verschwinden „Gegen den Schmerz und die Angst: ein Schrei nach Hoffnung“ statt.
Zu diesem Anlass, nahmen ExpertInnen in dieser Materie, VertreterInnen von internationalen und nationalen Organisationen, sowie Komitees und Familienangehörige von gewaltsamen Verschwundenen an einer Debatte über das allgemeine Gesetz gegen das erzwungene Verschwinden in Mexiko teil und hatten dort die Möglichkeit sich über ihre Erfahrungen auszutauschen und Kraft für die weitere Suche nach ihren Angehörigen zu sammeln.
Das allgemeine Gesetz gegen das erzwungene Verschwinden enstand 2015 aus einem Vorschlag einer breiten Gruppe von VertreterInnen von zusammengeschlossenen Familien, Zivilorganisationen und AkademikerInnen mit einem weiten Fachwissen in verschiedenen Menschenrechtsthemen. Gemeinsam erarbeiteten sie einen richtungsweisenden Vorschlag für die mexikanische Regierung, indem sie die Möglichkeiten für eine effektive Implementierung ihrer Verpflichtungen gegenüber der Convención Internacional para la Protección de todas las Personas contra las Desapariciones Forzadas (CIPPDF) und der Convención Interamericana sobre Desaparición Forzada de Personas (CIDFP) in ihrer Legislative und in der Praxis, sowie im Hinblick auf andere internationale Standards im Bereich der Menschenrechte, behandelten. Die AutorInnen des Dokuments mit dem Titel „Essenzielle Elemente zur Ausarbeitung des allgemeinen Gesetzes über erzwungene Verschwundene in Mexiko“ sind ProtagonistInnen des Wechsels, sie kämpfen für das Leben und die Gerechtigkeit, mit dem Ziel den Verbleib ihrer Angehörigen auszumachen, die Wahrheit aufzudecken, eine vollständige Kompensation zu erhalten, neue Fälle des Verschwindenlassens im Land zu verhindern und den erdrückenden Schmerz zu beenden.
Am 27. April 2017 wurde, nach wochenlangen Verhandlungen, das aktuelle Gesetz gegen das erzwungene Verschwinden in Mexiko verabschiedet, welche aber von den Zusammenschlüssen der Familien und Opfer als „entseelt“ hervorgehoben wurde, da wesentliche Merkmale des Orginialvorschlags durch den Senat ausgelassen oder gekürzt wurden. Eine der zentralen Forderungen des ursprünglichen Entwurfs war die Schaffung einer Nationalen Komission für die Suche von verschwundenen Personen (CNBPD ), welche sowohl staatliche FunktionärInnen, als auch VertreterInnen der Organisationen der Familien von Verschwundenen landesweit und MigrantInnen, VertreterInnenvon NROs im Menschenrechtsumfeld (von ihnen selbst ernannt) und AkademikerInnen bestehen würde. Das durch den Senat verabschiedete Gesetz hingegen sieht allein staatliche Funktionäre im CNBPD vor. Die Entstellung des eigentlichen Entwurfs hat die Bewegung geteilt, welche diesen angestoßen hatte. Die Oragnisationen, welche die Nationale Kampagne gegen das Verschwindenlassen (CNCDF ) angeführt hat, folgerte, dass sie nicht für den Entscheid des Gesetzesgebers aufgrund seiner zahlreichen Mängel bürgen können. „Wir stehen vor einem unvollständigen Gesetzesentwurf, bei dem – sollte er seiner jetzigen Fassung erlassen werden – zahlreiche Reformen und weitere Reformen nötig sein werden und letzendlich die echte Implementierung hinauszögert wird.“ (Zitat: Loyo, Mitglied des CNDF). Während die Bewegung für unsere Verschwundenen in Mexiko (MNDMX ) ein „50%iges Etwas jetzt, einem 100%igem Nichts“ vorzieht und der Regierung dazu aufrufen möchte die Formulierung nach und nach anzupassen. Die Sprecherin des MNDMX, Yolanda Morán Isáis (deren Sohn gewaltsam durch Einheiten des Militärs verschwunden wurde), erklärte: „Es eilte uns dieses Gesetz zu haben, denn hätten wir es nicht jetzt verabschiedet, hätten wir es nicht vor den Wahlen in den Bundesstaaten geschafft, dann kommen die Wahlen der Kandidaten für 2018 und dann die Wahlen 2018; Wir dachten wenn es nicht in diesem Zeitraum geschähe, hätten wir es weiter verzögert oder sie (Anmerkung: der Staat) hätten dieses Gestz einfach wie viele andere ausgesessen.“ Sie beklagte, dass die Senatoren und der Regierungschef den Familien „noch einigiges schuldig sind“ im Hinblick auf die Hauptthemen.
Damit dieses „kurzgegriffene“ Gesetz letzendlich verabschiedet werden kann, muss es noch durch das Abgeordnetenhaus bestätigt werden. Es gilt aber herauszustellen, dass trozt der Uneinigkeit unter den Familienangehörigen der Verschwundenen, darüber ob das Gesetz akzeptiert werden soll oder nicht, sich alle in dem Punkt einig sind, dass das Gesetz keine endgültige Lösung darstellt, sondern bloß ein weiteres Hilfsmittel in der Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen darstellt und ihre Kraftquelle weiterhin ihr unbeugsamer Kampf bleibt.
In Mexiko existieren, nach dem Nationalem Datenverzeichnis für vermisste und gewaltsam verschwundene Personen, mehr als 32.000 Opfer. Von den durch die Generalstaatsanwaltschaft der Bundesrepublik (PGR) erfassten Fälle, also mit einer Zuständigkeit und Gerichtsbarkeit auf Bundesebene, wurden 58% dessen in den drei Bundesstaaten Guerrero, Tamaulipas und Veracruz beobachtet. 46% der gesamtheitlich erfassten Fälle (im lokalen und bundesweiten Zuständigkeitsbereich) betreffen das Verschwindenlassen von Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 29 Jahren! Aus diesem Grund ist auch von einer Krise von erzwungenem Verschwinden in Mexiko die Rede.
Das erzwungene Verschwinden ist ein Delikt, dass einer Person seiner eigenen Freiheit beraubt, die Täter ihr Opfer im verborgenen halten und jegliche Information über ihren Verbleib verweigern und abstreiten. Aus diesem Grund wird es als eine mehrfache, massive und anhaltende Menschenrechtsverletzung erachtet, welche viele Grundrechte betrifft: das Recht auf Freiheit, die Anerkennung als Rechtspersönlichkeit, die körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Leben und den Schutz vor Folter, sowie unmenschlicher und erniedrigender Behandlungen. Tlachinollan bekäftigt seine Klassifikation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es stellt eine dauerhafte Schädigung dar, welche nicht nur die Opfer selbst durchleiden, sondern auch ihre Angehörige, welche ihrem Recht nach der Wahrheit und Gerechtigkeit beraubt werden. Ebendiese Familien und Kollektive bekamen während des Forums eine Stimme und konnten ihre Erfahrungen im Umgang mit Krisensituationen, in denen „wirklich Gesetzeslosigkeit herrscht“, teilen. „Der Staat und der Exekutivrat für Opferbetreuung (CEAV ) setzten darauf, dass wir aufgeben, um unsere Akten zu schießen. Wir mussten alles tun, wir wurden zu Anwälten, Gerichtsmedizinern, Ermittlern, Erzählern, da unsere Vertreter im Staat nichts tun.“, sagte eine Familienangehörige eines Verschwundenen während des Forums. Diese Kollektive und Familien haben es mit Zivilcourage geschafft der Krise entgegenzutreten, bspw. machten sie bereits hunderte Leichen ausfindig, identifizierten sie und brachten so sowohl den Opfern als auch ihren Angehörigen Frieden und Gewissheit. Es sind diese Kollektive und Familien welche die Kraft haben und welche ein Licht der Hoffnung an tausenden von Personen bringen konnten, welche sich in derselben Situation befinden. Ebendiese Kollektive und Familien werden durch die Artikulation und den Austausch ihrer Strategien jedes Mal stärker gegen die Mauer der Straflosigkeit.