FOKUS : “Keine Nachricht ist so viel wert wie ein Leben” – Über den Mut derer, die ihre Meinung äußern
21/02/2015AKTIVITÄTEN VON SIPAZ (Von Mitte November 2014 bis Mitte Februar 2015)
21/02/2015„Was wir wollen, ist unsere Rückkehr. Denn dort sind unser Land, unsere Häuser und alle unsere Sachen geblieben.“
Petrona López Girón, Vertriebene aus Banavil
„Ich sehe, dass die Regierung nicht daran interessiert ist, unser Problem zu lösen, deshalb fordern wir die Gerechtigkeit ein. Wir werden nicht nachlassen, wir werden immer weiter kämpfen.“
Miguel López Girón, Vertriebener aus Banavil
Am 13. November gedachten mehr als 600 Personen bei einem Pilgermarsch durch Palenque, Chiapas, dem 8. Jahrestag des Massakers von Viejo Velasco. An jenem Tag im Jahr 2006 drangen 40 Bewohner der Lakandonischen Gemeinschaft aus Nueva Palestina, sowie etwa 300 Elemente der ehemaligen Bezirkspolizei des Bundesstaates und weitere Beamte in die Gemeinde Viejo Velasco, Munizip von Ocosingo, ein. Aufgrund von Gewaltakten sahen sich die dortigen Bewohner gezwungen, ihre Häuser und Grundstücke zu verlassen. Dabei wurden vier Indigene getötet, vier weitere verschleppt und 36 aus ihrer Heimat vertrieben. Zwei der verschleppten Personen wurden später tot aufgefunden, während Mariano Pérez Guzmán und Antonio Peñate López noch immer verschwunden bleiben. Beim Pilgermarsch wurden, neben der lebendigen Herausgabe der Vermissten, die Aufklärung des Falls und das Ende der Straflosigkeit gefordert, da dem Centro de Derechos Fray Bartolomé de Las Casas (CDHFBC) zufolge, „die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Chiapas unzureichend gewesen“ seien.
Jener Pilgermarsch war ebenfalls der Startschuss für die Kampagne „Gesichter des Raubes“, welche von 12 mexikanischen Organisationen sowie von internationalen Kollektiven und Netzwerken aus Spanien, Deutschland, Russland und den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen wurde. Ziel der Kampagne ist es, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene eine Solidaritätsbewegung zu schaffen, auf Menschenrechtsverletzungen in Chiapas aufmerksam zu machen und so Druck auf den mexikanischen Staat auszuüben, damit er seinen Pflichten nachgeht. Auf der Internetseite www.rostrosdeldespojo.org finden sich Hintergrundinformationen sowie aktuelle Meldungen, Dokumentarfilme und eine Petition mit den genannten Forderungen, die unterzeichnet und an die zuständigen Behörden verschickt werden kann. Deweiteren werden lokale Veranstaltungen organisiert, die den „Gesichtern des Raubes“ eine Stimme geben, sowie zu Aktionen der internationalen Solidarität aufgerufen. Eine solche Aktion ist im Rahmen des 8. März, des Weltfrauentages, geplant, um auf die besonders prekäre Situation der vertriebenen Frauen und Kinder aufmerksam zu machen.
Die anderen beiden exemplarischen Fälle der Kampagne sind die Vertreibungen von Banavil und San Marcos Avilés. In der Gemeinde Banavil, Munizip Tenejapa, griffen am 4. Dezember 2011 Mitglieder der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) Sympathisanten der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) mit Schusswaffen an. Pedro Méndez López wurde bei der Attacke getötet, Alonso López Luna verschleppt. Von ihm fand man wenig später einen Arm, jedoch blieb der Rest seines Körpers verschwunden. Außerdem wurden sechs Personen verletzt und zwei willkürlich verhaftet. 13 Personen befinden sich nun in San Cristóbal de Las Casas, vertrieben von ihrem Grund und Boden, ihrer finanziellen wie auch kulturellen Lebensgrundlage.
San Marcos Avilés, eine indigene Tseltal-Gemeinde im Munizip von Chilón wurde 1994 nach dem zapatistischen Aufstand gegründet. Im Jahre 2010 beschlossen die Mitglieder der Unterstützungsbasis der EZLN, eine autonome Schule für ihre Kinder zu bauen, stießen damit jedoch auf Ablehnung bei einem Teil der Gemeinde, den sie als „Parteianhänger“ identifizierten. Im September 2010 nahmen die Drohungen jener Gegner derart zu, dass sich die zapatistische Gruppe aus Angst vor Aggressionen gezwungen sah, die Gemeinde zu verlassen. Im Oktober kehrten sie zwar wieder in ihre Häuser zurück, konnten seitdem jedoch nicht mehr ihr Land bewirtschaften, da die Drohungen und Einschüchterungen andauerten.
Allen drei Fällen liegen dieselben Problematiken zugrunde: der territoriale Raub und die systematische Straflosigkeit. Laut dem Buch „Interne Vertreibung aufgrund von Gewalt“ lag die Zahl der Vertriebenen in Chiapas im Jahr 2014 bei mehr als 25.000, wovon etwa 70% direkt oder indirekt auf den ungelösten bewaffneten Konflikt in dem Bundesstaat zurückzuführen sind. Die Wurzel der Auseinandersetzung in Viejo Velasco geht zurück ins Jahr 1974, als durch eine präsidentiale Entscheidung etwa 614.000 Hektar des Lakandonischen Urwaldes an 66 Lakandonische Familien vergeben wurden, ohne dabei tausende anderer indigener Bewohner jener Region zu berücksichtigen, welche seitdem mit der Gefahr leben, von ihrem Land vertrieben zu werden. Im Falle der Vertriebenen von Banavil ist zu erwähnen, dass sich ihr Land auf der voraussichtlichen Route der geplanten neuen Autobahn zwischen San Cristóbal de Las Casas und Palenque befindet. Dieses bundesstaatlich wie staatlich bezuschusste Projekt soll die touristische Infrasturktur in der Region verbessern. „Das bedeutet, dass unser Land zerstört wird, und wir haben keine Möglichkeit, um es zu verteidigen“, beklagen vertriebene Frauen aus der Ortschaft.
Chiapasʹ Reichtum an Artenvielfalt und Naturressourcen zieht viele Projekte und Investitionen an, die mit diesen Vorkommen Gewinn machen wollen. Eine solche Profitorientierung geht allerdings selten mit dem Umweltverständnis und den Traditionen der indigenen Bevölkerung einher. In seinem Bericht „Menschenrechte zur Debatte – Zwischen offiziellem Zynismus und der Würde der Völker“ beklagt das CDHFBC: „Von Amtszeit zu Amtszeit haben die bundesstaatlichen wie die staatlichen Regierungen ihre Geringschätzung der ursprünglichen Völker Mexikos demonstriert. Derzeit erweitern sie ihre Politik des Raubes mit dem Ziel, das Gebiet zu säubern, um strategische Projekte durchsetzen zu können. Das führt dazu, dass verschiedene soziale, politische und kulturelle Organisationsformen der Gemeinden und Völker verschwinden, welche ein Manifest der menschlichen Vielfalt sind.“ In diesem Sinne bedeutet die Vertreibung für die Betroffenen nicht bloß den Raub ihres Landes und finanzielle Not, sondern ebenfalls den Raub ihrer Kultur, Tradition und Ideologie.