
FOKUS: Gewalt gegen Frauen – die andere Pandemie
02/06/2020
Aktivitäten von SIPAZ (Mitte Februar bis Mitte Mai 2020)
02/06/2020Krankheitsausbrüche betreffen Frauen und Männer unterschiedlich und Pandemien verschärfen die bestehenden Ungleichheiten für Frauen und Mädchen, sowie die Diskriminierung anderer Randgruppen wie Menschen mit Behinderung und Menschen in extremer Armut
Die Ausnahmesituation der letzten Monate hat es vielen Frauen ermöglicht, andere Räume der Informationsverbreitung, politischen Führung und persönlichen sowie kollektiven Reflexion zu nutzen.
Doch die Frage nach der Verletzung ihrer Rechte bleibt auch während der Pandemie bestehen. Als die Regierungen verschiedener Länder ankündigten, eine häusliche Quarantäne sei notwendig, um das Virus zu bewältigen, brachten einige internationale Organisationen ihre Besorgnis über die unvermeidliche Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt und die Bedrohung zum Ausdruck, die eine solche Maßnahme für viele Mädchen und Frauen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt zur Folgen haben würde.
Das Büro der Vereinten Nationen für Frauen in Nord-, Mittel- und Südamerika berichtete, dass Frauen, Mädchen und Jugendlichen auf der Flucht vor Gewaltsituationen oder beim Zugang zu Hilfsdiensten mit zusätzlichen Hindernissen durch die Bewegungseinschränkungen in der Quarantäne konfrontiert werden könnten. Darüber hinaus zeigt sich, dass gerade der ständige Aufenthalt im eigenen Zuhause eine besonders große Gefahr bedeutet, da die Wohnung oft der Ort ist, an dem die meisten Misshandlungen und gewalttätigen Verhaltensweisen stattfinden.
Wenn gleich sich die Gewalt in einer Vielzahl von Formen äußert, so haben wir während der Pandemie besonders einen Anstieg in der digitalen Gewalt beobachten können. Wir haben Gewaltformen gesehen, die sich durch den Umstand der Quarantäne noch verstärken, wie zum Beispiel die des Stereotyps, der Frauen für alle Aufgaben rund um den Haushalt, die Bildung der Kinder und die Pflege älterer Familienmitglieder verantwortlich macht.
Wir sehen Xenophobie, ökonomische Gewalt, vermehrte Bedrohung und Kriminalisierung von Menschenrechtsaktivistinnen, Diskriminierung, eingeschränkter oder nicht vorhandener Zugang zu medizinischer Versorgung. Wir sehen insbesondere die Verwundbarkeit älterer Frauen, Frauen mit Behinderung, queere oder Transfrauen, solche, die mit HIV leben, Migrantinnen, Geflüchtete, Frauen in Konfliktgebieten, indigene und schwarze Frauen in ländlichen Gegenden.
Das Regierungsparadox
In Mexiko wurde in mehreren Regionen eine Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt zum gleichen Zeitpunkt festgestellt: Im März, als die landesweite Kampagne #QuédateEnCasa (#BleibZuhause) gestartet wurde. In Oaxaca führte die Menschenrechtsorganisation GES Mujer eine Analyse durch, bei der 16 gewaltsame Todesfälle von Frauen (Femizide) registriert wurden, von denen 7 im März stattfanden, als die Quarantäne noch freiwillig war. Die anderen 9 Morde fanden statt, als die Quarantäne bereits als obligatorisch galt. Darüber hinaus habe es nach Angaben der Organisation einen Anstieg von 26% der Hilferufe von Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. In einem Zeitraum von nicht mehr als 4 Monaten wurden 36 Frauen gewaltsam ermordert,10 von ihnen in ihren Häusern.
In anderen Bundesstaaten wie Chiapas sind die Notrufe für Vorfälle wie sexuellen Missbrauch und Belästigung, Vergewaltigung sowie Gewalt in der Partnerschaft und der Familie mit rund 116 tausend Anrufen ebenfalls sprunghaft angestiegen. Durchschnittlich wurden demnach 155 Frauen pro Stunde misshandelt. Die Generalstaatsanwaltschaft von Chiapas bemerkte in ihrem Bericht zum Alarmzustand wegen geschlechtsspezifischer Gewalt eine Zunahme der Fälle zwischen 2019 und 2020. So wurden zwischen Januar und März dieses Jahres insgesamt 1733 Fälle registriert, von denen 1296 Fälle familiärer Gewalt waren. Darüber hinaus wurden im März 706 Straftaten verzeichnet, während im Februar 540 registriert wurden. Tapachula, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de las Casas waren die drei Gemeinden mit der höchsten Inzidenz.
Diese Daten stehen im Kontrast zur Meinung der mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der erklärte, dass die angebliche Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt während der Quarantäne in Mexiko nicht unbedingt stattfinde. Er argumentierte, dass die Parameter zur Messung dieser Situation in anderen Nationen könnten nicht auf Mexiko angewendet werden und zudem herrsche in diesem Land ein Klima der „Brüderlichkeit“. Er behauptete, es gebe keine Zunahme der Beschwerden und die registrierten Zahlen seien falsch. Dutzende von zivilen, feministischen Organisationen antworteten auf diese Aussagen und warnten, dass die Nichtanerkennung dieser Aggressionen Gewalt gegen Frauen normalisiere und sie und ihre Kinder gefährde.
Doch damit nicht genug. Jüngst entschied die mexikanische Regierung, staatliche Mittel für Frauenhäuser für indigene und afromexikanische Frauen (CAMIs) zu kürzen. Diese Einrichtungen arbeiten mit Zuschüssen aus dem Programm für Indigene Rechte, das unter der Verantwortung des Nationalen Instituts der Indigenen Völker (INPI) steht. Indigene Frauen sind demnach noch gefährdeter als Mestizinnen, da die CAMIs für sie die einzige Einrichtung sind, auf die sie von ihren Dörfern aus Zugriff haben. Dort werden Frauen, Mädchen und Jugendlichen, die der Staat nicht erreicht, geschützt und in ihrer jeweiligen indigenen Sprache unterstützt und begleitet.
Die Geburt alternativer Projekte
Während einige Regierungsinstitutionen, die Frauen unterstützen sollen, ihre Dienste teilweise oder ganz aussetzen, beginnen sich andere gesellschaftliche Akteure zu mobilisieren. Zivilorganisationen und feministische Gruppen versuchen, ihre Arbeit so anzupassen, dass sie sie auch aus der Ferne weiterhin psychologische und rechtliche Unterstützung anbieten können, auch wenn dies eine echte Herausforderung darstellt. So entstanden Solidaritätsinitiativen von und für Frauen.
In Mexiko-Stadt wurde eine nach Bundesstaaten gegliederte Kartierung aller Regierungsinstitutionen, Kollektive und zivilen Organisationen, die Frauen unterstützen, durchgeführt. Das Ergebnis ist ein digitales Dokument, das für alle zugänglich ist, die über einen Internetzugang verfügen: das feministische Verzeichnis „Der Machismus ist nicht in Quarantäne“, das mit Hilfe der Aktivistin Estefanía Veloz, der Juristin Frida Gómez und der parlamentarischen Beraterin Andrea Chávez erstellt wurde.
Im Südosten Mexikos riefen prozapatistische Organisationen zu einer „Globalen Aktionswoche für das Leben“ auf, in der sie die Menschen unter anderem dazu aufforderten, den Kampf gegen die geschlechtsspezifische Gewalt nicht aufzugeben. Das Motto des Aufrufs lautete #ElEncierroNoMeCalla (ungefähr „Der Lockdown bringt mich nicht zum Schweigen“), unter dem verschiedene Workshops, Diskussionsrunden und Analysen zu diversen Themen stattfanden, unter anderem die Bedeutung der Geschlechterperspektive während der Pandemie. Unter diesem Slogan schlossen sich AkademikerInnen, AktivistInnen, indigene FührerInnen, JuristInnen, JournalistInnen, PsychologInnen und andere SpezialistInnen zusammen, um dieses historische Problem im aktuellen Kontext sichtbar zu machen.
Vor Kurzem wurde eine weitere Social-Media-Kampagne gestartet, #AislamientoSinViolencia (#IsolationOhneGewalt), die von verschiedenen feministischen Organisationen (Konsortium für Parlamentarischen Dialog und Gleichheit Oaxaca, GESMujer, Ixmucane AC, Meraki, Tejiendo Comunidad und dem Netzwerk für Sexuelle und Reproduktive Rechte Oaxaca) koordiniert wird.
Ein weiteres Beispiel sind die Organisationen, die Sexarbeiterinnen schützen und unterstützen. Sie initiierten eine Crowdfunding-Kampagne, an der sich private Spenderinnen beteiligten, sowie die Straßenbrigade „Elisa Martínez“, die Medikamente, Lebensmittel, Hygieneartikel, Kondome etc. sammelte. Darüber hinaus wurde die Regierung von Mexiko-Stadt gebeten, unabhängigen ArbeitnehmerInnen eine monatliche finanzielle Unterstützung zu gewähren.
Es liegt auf der Hand, dass weiter darüber nachgedacht werden muss, wie Frauen während dieser Pandemie informiert und unterstützt werden können, nicht nur ein bestimmter Typus von Frau, sondern die ganze Vielfalt, die unter ihnen besteht. Es muss auch über Integrationen und die Beteiligung eines breiteren gesellschaftlichen Spektrums an der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt nachgedacht werden. Der Zugang zu Technologie ist nicht für alle Frauen selbstverständlich, die unter Gewalt leiden, noch viel weniger für diejenigen, die in extremer Armut leben, für indigene Frauen, Frau mit jeder Art von Behinderung oder für diejenigen, auf die alle drei Faktoren zutreffen und die unter all diesen Problemen leiden.