FOKUS: Folter in Mexiko, eine „wiederkehrende“ und „weit verbreitete“ Problematik
02/07/2019Aktivitäten von SIPAZ (Von mitte Februar bis Mitte Mai 2019)
02/07/2019Ich frage mich nur, wie sehr ist die Gewalt gegen Frauen gestiegen ist und wie groß die Inkompetenz der Justiz ist, dass diese Plattformen für viele Frauen der einzige Weg sind, um zu denunzieren?
Der 22. März 2019 markiert nicht nur den Beginn einer neuen Diskussion über geschlechtsspezifische Gewalt, sondern auch eine neue Art über ebendiese zu diskutieren. Mit der öffentlichen Anklage der politischen Kommunikatorin Ana G. González auf ihrer Twitterseite gegen den Autoren Herson Barona, lebte die mexikanische #MeToo-Bewegung wieder auf.
Besagte Bewegung hat ihren Ursprung in den USA. 2017 veröffentlichte die New York Times einen Artikel, der detailliert die sexuelle Belästigung von Models, Schauspielerinnen und Produzentinnen durch den Filmproduzenten Harvey Weinstein im Laufe von 30 Jahren beschreibt. Wenig später berichteten 40 weitere Frauen von ihren Erfahrungen und schlossen sich den Anschuldigungen an. In der Hitze der Diskussion twitterte die Schauspielerin Alyssa Milano: „wenn alle Frauen, die sexuelle Belästigung oder einen sexuellen Übergriff erlitten haben, einen Tweet mit den Worten „Me too“ machen würden, könnten wir den Leuten das Ausmaß des Problems zeigen“, was dazu führte, dass der hashtag in fast 14 Millionen Tweets verwendet wurde. Auf diese Weise wurden zahlreiche berühmte Persönlichkeiten aus Hollywood öffentlich angeklagt, bis sich die Anschuldigungen auf andere Bereiche wie die Politik, Kunst, Finanzen, Kommunikationsmedien, Sport und Technologie ausweiteten.
Parallel zu den Anschuldigungen gegen Weinstein und im Laufe der folgenden Monate, kam es zu ähnlichen Anschuldigungen in Mexiko, oft in Form von Interviews. Zu einigen der einschlagendsten und kontroversesten Anklagen kam es in einer Reihe von Interviews von Carmen Aristegui auf CNN im Februar 2018 mit den Schauspielerinnen Karla Souza, Paola Núñez, Stephanie Sigman, der Theaterautorin Sabina Berman, Stand-up-Comedian Sofía Niño de Rivera, der Turmspringerin Azul Almazán und der Moderedakteurin Lucy Lara.
Mit ihrer Anklage gegen Herson Baron am 22. März dieses Jahres, der mutmaßlich mehr als 10 Frauen geschlagen, manipuliert, geschwängert und bedroht haben soll, löste Ana G. González eine Welle weiterer Anklagen aus sowie die Entstehung von #metooescritores (#metooAutoren) und des Accounts @metooescritores (@metooAutoren). Innerhalb eines Tages wurden 134 Autoren genannt, acht von ihnen von mehr als 5 Personen und es wurden 28 weitere Accounts und Hashtags für andere Berufe und Sektoren wie den Journalismus, die Musik, die Medizin und die Politik geschaffen.
#MeTooMX ist nicht der erste Versuch, die Gewalt gegen Frauen mit einem Hashtag oder einer Kampagne auf Twitter zu visibilisieren (#Niunamenos/ #Nichteineweniger, ##ropasucia/#dreckige Kleidung, #SiMeMatan/#Wennsiemichtöten, #MiPrimerAcoso/#MeineersteBelästigung), aber zweifellos der erfolgreichste mit mehr als 424.000 Anklagen von 230.578 Nutzerinnen innerhalb von zwei Wochen und einer aufgeheizten öffentlichen Debatte. Die heftigste Kritik richtetete sich gegen die fehlende Verifizierung der Anschuldigungen und das Ausbleiben rechtlicher Schritte.
Bereits nach den Interviews von Carmen Aristegui kamen Vorwürfe auf, da einige der Frauen sich dagegen entschieden hatten, den Namen ihres Belästigers öffentlich zu nennen und sie keine Anzeige erstattet hatten. 2019 bezieht sich die Kritik dagegen auf die anonymen Anklagen der Frauen. Die Twitter-Accounts ermöglichen es ihnen, eine direkte Nachricht zu schicken, die der Account dann veröffentlicht, ohne den Namen des mutmaßlichen Opfers zu teilen. Auch wenn die gerechtfertigte Sorge besteht, dass diese Art der Anklage möglichen falschen Anschuldigungen die Tür öffnet, muss man den Kontext bedenken, in dem sie gemacht werden. Die Frauen, die in den Interviews von Aristegui gesprochen haben, wurden in den sozialen Netzwerken beleidigt, diffamiert und belästigt. Seinen Namen anzugeben oder Anzeige zu erstatten, bedeutet nicht nur Verletzlichkeit in den sozialen Netzwerken, sondern auch eine öffentliche Verletzlichkeit und das Risiko einer Stigmatisierung sowie einer anhaltenden Reviktimisierung. Besagte Auswirken zeigen sich auch im Privatleben der Frauen, setzten sich aber im Justizsystem fort, konkret bei der Betreuung von Opfern und der Verfolgung und Bestrafung der Täter. Die neusten Daten des INEGI (Nationales Institut für Statistiken und Geographie) sind von 2012. Das fehlen von Statistiken und Wissen erschwert es, eine Einschätzung des Ausmaßes der Problematik zu bekommen und wirkt sich direkt auf den Umgang mit den Fällen aus. Trotzdem zeigen diese Daten, dass die Zahl der Verurteilungen weit unter der Zahl der Anklagen lag, wobei 95% der Taten straflos blieben.
Abgesehen von diesen konkreten Faktoren, existiert oft eine allgegenwärtige Angst aufgrund der weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen, die sie davon abhält, Anzeige zu erstatten. „Wir wissen, dass die Wurzel dieses Problems strukturell ist, und dass sich unter den Hauptursachen die fehlende Chancengleichheit befindet, mit der sich die Frauen konfrontiert sehen, und die für sie einen sozialen Nachteil bedeutete, aber die Regierungen ergreifen keine Maßnahmen, um dagegen vorzugehen“, erklärt Angélica Ayala, die Präsidentin der Gruppe für Studien über die Frau Rosario Castellanos (GESMujer). Diese systemische und systematische Gewalt zeigt sich in den 9 Frauen, die jeden Tag in Mexiko ermordet werden und in der Tatsache, dass 6 von 10 Frauen einen gewaltsamen Vorfall erlitten haben- doppelt so viel wie durchschnittlich weltweit.
Nichtsdestotrotz ist eine Aklage, die online gemacht wurde, nicht gleichbedeutend mit einer Anzeige bei den Behörden. Trotz der Legitimität, sexuelle Belästigung anzuprangern, und einer gerechtfertigten Angst, müssen ohne eine Untersuchung zwei Elemente berücksichtigt werden: die Unschuldsvermutung und die Tatsache, dass eine Anzeige nicht die Hetze gegen einen mutmaßlichen Täter legitimiert.
Der strittige Diskurs auf Twitter, der von einigen dafür kritisiert wurde, dass er sich in eine „Hexenjagd“ verwandelt hatte, wurde durch das Ausbleiben einer Reaktion oder Erklärungen von Seiten der Regierung noch weiter verschärft. Anstatt eine Strategie zu präsentieren, wurde die Bewegung verurteilt und sich die Verantwortung gegenseitig zugewiesen (unter den Beteiligten der Präsident Andrés Manuel López Obrador, die Bundesstaatsanwaltschaft, das Institut für Frauen und Abgeordnete) bis zum Forum #MeToo am 11. April. In besagtem Forum kündigte Nashieli Ramírez, die Präsidentin der Menschenrechtskomission des Federaldistrikts an, dass ihre Komission Straf-, Verwaltungs- und Zivilanzeigen ermöglichen wird, und öffnete damit einen Rechtsrahmen für „me too“.
#MeTooMX ist der Beginn einer notwendigen Debatte, ein politisches Werkzeug der Visibilisierung, obwohl es kein effektiver Anklagemechanismus ist. Diese Konversation muss weiter gehen, um gegen die geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen, um die Betreuung von Frauen, die jedwede Form der Gewalt erlitten haben, zu verbessern, um das Justizsystem zu transformieren, um effektive Wege der Anklage außerhalb von Behörden zu schaffen, um die Reviktimisierung auszulöschen und damit auch die 48,5% der Frauen eingeschlossen werden, die keinen Zugang zum Internet haben und nicht in einer urbanen Region leben. #MeTooMX hat die Gewalt gegen Frauen auf die öffentliche Agenda gesetzt. Jetzt müssen konkrete Maßnahmen folgen, in erster Linie von Seiten der Behörden, aber auch von Seiten der Gesellschaft selber, denn die Problematik endet weder im rechtlichen noch im juristischen Rahmen, sondern muss tiefgreifende kulturelle Veränderungen beinhalten.