FOKUS: Die Bildungsreform und der Kampf der Lehrämter- Wichtiges um die Mobilisierungen zu verstehen
20/09/2016AKTUALITÄT: Mexiko – Lehrer kehren trotz Nichtübereinstimmungen zurück in die Klassen
16/02/2017Tausende Frauen gemeinsam auf den Straßen, lilafarbene Kleidung, Spruchbänder und Parolen überall. Treffen, Musikacts, Auftritte von KünstlerInnen und Workshops. All das gab es am 24. April, als sich in ca. 40 Städten Mexikos Frauengruppen durch einen massiven Aufruf in sozialen Netzwerken mobilisierten. Ziel war das Sichtbarmachen, das Hinterfragen und das Aufzeigen der verschiedenen Formen chauvinistischer Gewalt, die Frauen in einem Land, in dem nach Angaben der Vereinten Nationen jeden Tag sieben Frauen ermordet werden, tagtäglich erleben.
Auch bekannt als lilaner Frühling oder #24A, zeigte dieser Aktionstag die subtilsten Formen von Gewalt auf- die normalerweise nicht als solche wahrgenommen werden- wie es zum Beispiel bei einem lasziven Gruß in der Straße der Fall sein kann, bis hin zu extremsten Beispielen wie dem Feminizid (Mord an einer Frau, bedingt durch ihr Geschlecht). Dazwischen eine große Fülle an Szenarien: Die Belästigungen auf der Straße, die Vergegenständlichung des Frauenkörpers in den Medien und der Öffentlichkeit, die Stereotypen in Soaps und Filmen, die gynäkologische Gewalt wie Sterilisierung oder die unmenschliche Behandlung während der Schwangerschaft oder der Geburt, die Kriminalisierung von Frauen, die abtreiben, die Diskriminierung gegenüber nicht heterosexuellen Personen, der Hass gegenüber Feministinnen, die Transphobie, sexuelle Aggressionen oder Verletzungen, gefolgt von vielen etcs. Dafür waren die Schilder und die fordernden Rufe wie „wir wollen uns lebend“, „ich will nicht deine Komplimente, ich will deinen Respekt“, „wir wollen keine Blumen, wir wollen Rechte“ oder „wenn sie eine von uns anfassen, antworten wir alle“.
Einige Medien sahen diese massive Bewegung als eine der stärksten Bewegung von Frauen in der Geschichte Mexikos. Zu der Öffentlichkeitsaktion versammelte sich eine große Vielfalt an Frauen, z.B. aus Kollektiven, Organisationen oder als Einzelperson, egal ob Feministinnen oder nicht, von verschiedenen Frauenbewegungen mit verschiedenen politischen Positionen, mit verschiedenen sexuellen Einstellungen, Transsexuelle, Intersexuelle, Zwischengeschlechtliche und Männer.
#MiPrimerAcoso (#MeineErsteBelästigung)
Gleichzeitig mit den Demonstrationen auf der Straße gab es eine Aktion in den sozialen Netzwerken Twitter und Facebook, bei der tausende Frauen ihre unangenehmen Erfahrungen mit Belästigungen, die sie erleben mussten, teilten. Durch den Hashtag #MiPrimerAcoso erzählten sie was der erste Missbrauch war, den sie erleben mussten, wer der Täter war, wo es statt fand und wie sie sich gefühlt haben, verletzt worden zu sein.
„Ich war acht Jahre alt, mein ‚Onkel‘ […] zeigte sich vor mir, es kam bis zum sexuellen Missbrauch, er sagte mir er würde mir das beibringen, damit ich es wüsste wenn ich groß wäre“.
„Ich war 10 Jahre alt. […] Ich gab Eichhörnchen gerade Erdnüsse, als ein Mann sich vor mich stellte und seine Hose runterzog, um mir seinen erigierten Penis zu zeigen“.
„Ich fuhr zum ersten Mal alleine mit der Metro, […] und ein Mann entschied sich dazu vor mir zu masturbieren, in dem er seinen Penis an meiner Schulter rieb […], ich war elf Jahre“.
Am Ende des Tages gab es 183.000 veröffentlichte Belästigungen, was #MiPrimerAcoso zum trending topic (das meist wiederholte Wort oder der meist wiederholte Satz bei Twitter in einer bestimmten Zeitspanne) machte und sich in einige Ländern verbreitete. Auch wenn diese Aktion nicht zu relevanten Veränderungen beitrug, erlaubte sie aber die Annäherung an eine soziale Problematik, über die in Mexiko wenig berichtet wird. Eine Analyse der Tweets veröffentlicht in Distintas Latitudes enthüllte, dass die erste sexuelle Belästigung Frauen im Allgemeinen noch im minderjährigen Alter trifft, meistens zwischen dem 6. und dem 11. Lebensjahr. In diesem Alter ist es selten, dass die Mädechen die Aggressionen als Belästigung verstehen. Als Konsequenz daraus werden sie selten angezeigt. „Ich habe viele Jahre gebraucht um mir darüber klar zu werden, was passiert ist und viel länger um zu verstehen, dass ich kein Objekt bin. Ich habe den Großteil meines Lebens in Stille und Einsamkeit verbracht“. Viele Frauen gaben an, sich schuldig oder durch den Missbrauch beschämt und gedemütigt gefühlt zu haben, weshalb sie es geheim hielten: „Ich habe niemandem etwas erzählt, weil ich mich geschämt habe, ich fühlte mich gedemütigt und hatte Angst, dass meine Mama mir nicht mehr erlaubt, ohne Begleitung raus zu gehen“.
Laut der genannten Analyse findet eine Belästigung in verschiedenen Räumen statt. In 47% der bekannt gewordenen Fällen passiert es auf der Straße, was darauf hinweist, dass es sich dabei nicht nur um eine Problematik des öffentlichen Raumes handelt, sondern es auch in anscheinend sicherem Umfeld, wie den eigenen Häusern der Frauen und Mädchen zu Übergriffen kommt. „Die Gewalt existiert nicht nur da draußen, die Gewalt gibt es auch zu Hause, mit den Personen, die dafür verantwortlich sind, uns zu beschützen“, erklärt eine Frau. Sie teilten mit dass es normal war, dass bei den Vorfällen einige Leute als Zeugen dabei waren aber nichts dafür unternommen wurde, das Ganze zu stoppen. Bei den Zeugen handelt es sich um andere FußgängerInnen, Leute in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder Familienangehörige zu Hause.
Diese Aktion in den sozialen Netzwerken machte die Regelmäßigkeit deutlich, mit der Frauen Gewalt erfahren, ebenso, dass die Belästigungen, die sie teilten zwar die ersten, aber nicht die einzigen waren. „Wenn ich anfange euch alle Fälle zu erzählen, finde ich kein Ende. Es sind unendliche“, veröffentlichte eine Frau. Die erwähnte Analyse ergab, dass es sich bei vier von zehn der veröffentlichten Fälle nicht um Belästigungen handele, sondern um sexuellen Missbrauch, welcher als Straftat klassifiziert wird und demnach anzeigbar ist. Nach Angaben der Kommission für Opferbetreuung, bleiben 99% der in Mexiko begangenen sexuellen Straftaten unbestraft. Zudem ist die Belästigung schon eine so alltägliche Situation geworden, dass sie normalisiert wird.
Und was kommt danach?
Als die Mobilisierung sowohl auf den Straßen, als auch in den sozialen Netzwerken zu Ende ging, blieb das große Fragezeichen: Und jetzt, was folgt? Welche Fortdauer werden solche Aktionen haben? Werden sich die Forderungen, die von Tausenden geschrien wurden und auf den Plakaten standen, erfüllen? Wird es für die, die durch die Anzeigen der Frauen als Vergewaltiger beschuldigt wurden Konsequenzen geben? Wird aus den Protesten ein organisierter Prozess hervorgehen, der mehr als ein Höhepunkt der kollektiven Euphorie ist? Oder wird alles in den Alltagstakt der sexistischen Aggressionen zurückkehren?