AKTUELL: Der Besuch von Papst Franziskus in Mexiko: Ein Wort an den Weisen ist genug
20/05/2016ARTIKEL: Familien von Vermissten organisieren sich zu VerteidigerInnen
20/05/2016“Weil das Verschwindenlassen und die Morde an jedem Tag, in jeder Stunde und überall die Wahrheit und die Gerechtigkeit sind […]. Wir bilden einen Wirbel der Luft in der Welt, damit sie uns unsere Verschwundenen lebend zurück bringen”.
Ayotzinapa: Die Spitze des Eisberges
Die Nachricht des gewaltsamen Verschwindenlassen der 43 Studenten der Escuela Normal Rural Raúl Isidro Burgo in Ayotzinapa in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 in Iguala, Guerrero, ist um die Welt gegangen. Der sogenannte “Fall Iguala” brachte das Thema des gewaltsamen Verschwindenlassens im Land in die Medien und heute ist klar, dass Ayotzinapa nur der sichtbarste Fall der ganzen Problematik ist. “Mexiko ist ein großes Massengrab”, erklärte Javier Sicila, Mitglied der “Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde (MPJD)” bereits im Jahr 2014 aufgrund der Entdeckung von versteckten Gräbern in der gesamten Republik.
“Viele Familien hier in Mexiko sind lebendig tot, unglücklich, mit eingefrorenem Schmerz, weil sie uns das meist Geliebte im Leben entrissen haben: Unsere geliebten Menschen”, schrieb eine Mutter eines Verschwundenen aus Michoacán in einem Brief an Papst Franziskus zu seinem jüngsten Besuch im Land. So wie sie, erzählen Zeugenaussagen von abertausenden Menschen wie ihre Angehörigen “eines Tages das Haus verließen ohne je wieder zukommen, all das in einer unsicheren Welt: Sie sind nicht tot, sie sind nicht lebendig, wo sind sie? Andere wurden gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben um entführt oder sogar ermordet zu werden”. Das nationale Datenregister von Verschwundenen gibt Gewissheit darüber, dass in Mexiko bis heute mehr als 27 000 Personen als verschwunden gelten.
Trotz dieser alarmierenden Zahl haben viele Organisationen und Medien angedeutet, dass die Dunkelziffer verschwundener Personen weitaus höher sein kann. Wie Amnesty International (AI) in ihrem Bericht “Behandlung mit Gleichgültigkeit” (Original: “Un trato de indolencia”) im Jahr 2014 angibt, “bleiben die meisten Delikte ohne Anzeige, weshalb man den wirklichen Umfang des Problems nicht kennt und die offizielle Zahl das Ausmaß der Angelegenheit unterbewerten könnte”. Einerseits beinhaltet das nationale Register nur die Fälle von Verschwundenen, die durch die Staatsanwaltschaft ermittelt werden, welche nach Angaben der “Vereinten Kräfte für unsere Verschwundenen in Mexiko (FUNDEM)” nur einer von neun ist. Dies schließt sowohl undokumentierte Migranten aus, die verschwunden sind- sie sind eine der Gruppen, die höchst angreifbar sind für dieses Phänomen-, als auch die gefundenen Körper in den Gräbern oder die, die im Krankenhaus oder in forensischen Abteilungen medizinischer Dienste verbleiben. Wie die “Nationale Befragung zur Viktimisierung und Wahrnehmung (ENVIE)” 2015 angibt, entscheiden sich viele Familien aufgrund von Misstrauen gegenüber den Behörden oder weil sie es als verlorene Zeit sehen dazu, keine Anzeige zu erstatten. Familienorganisationen von Opfern geben an, dass auch oft die Angst vor Unterdrückung durch die verantwortlichen Behörden eine Rolle spielt. Die Regierung selbst gab vor dem Ausschuss gegen gewaltsames Verschwindenlassen der Vereinten Nationen (ONU) an, dass sie über keine genauen Zahlen von verschwundenen Personen verfügt. Das Fehlen von Anzeigen und eines detaillierten Registers zur Registrierung von gewaltsamen Verschwindenlassen lässt die Möglichkeit erahnen, dass, so verkündeten es Mitglieder von FUNDEM, die eigentliche Zahl an verschwundenen Personen im Land bei mehr als 300 000 liegen könnte.
Wie ist das möglich?
Das Land ist aufgrund einer Vielzahl von Faktoren bishin zu dieser besorgniserregenden Situation gelangt. Einerseits, sind Banden des organisierten Verbrechens in die sozialen Netzwerke in einer Vielzahl der Bundesstaaten in der Republik eingedrungen, v.a. im Norden, genauer in der Nähe zur Grenze mit den USA. Dadurch vereinfache sich die Kontrolle der Drogenumschlagsroute, hauptsächlich in Richtung des Nachbarlandes. Diese Ausbreitung ist das Ergebnis der Inkompetenz der Behörden im Kampf gegen die Gruppen des organisierten Verbrechens, auch Kartelle genannt, oder wie es einige Menschenrechtsorganisationen und die Medien andeuten, ist es das Ergebnis ihrer geheimen Absprachen. Diese Banden, die mit illegalen Aktivitäten wie dem Drogen-, Waffen-, oder Organhandel wirtschaften, Menschenhandel betreiben, Personen erpressen oder entführen, haben angefangen Teile der Bevölkerung in diese Geschäfte miteinzubeziehen in dem sie Zahlungen durch Bedrohungen einfordern. Die generelle Armutssituation, in der sich Mexiko befindet, hat die Verbreitung des organisierten Verbrechens zum Teil vereinfacht.
Körper von ermordeten Personen, ausgestellt in der Öffentlichkeit, zerstückelte Kadaver, enthauptete oder erhängte Personen sind Beispiele der “Botschaften” des Terrors und beispielhafte Strafen, die die Banden des organisierten Verbrechens hinterlassen. Diese Botschaften sind Beispiele, die die Konsequenzen zeigen, wenn man nicht kooperiert oder Missbräuche durch die Banden anzeigt. Sie gehen sowohl an die konkurrierenden Kartelle- im Streit um die Vorherrschaft in einem bestimmten Gebiet-, als auch gegen die Behörden und die Gesellschaft generell vor. Sie verursachen Angst und allgemeinen Terror um ihre Kooperation zu erreichen und Anzeigen zu vermeiden. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine andere Form dieser Praktiken.
Seit 2006, das Jahr in dem der “Krieg gegen die Drogen” durch den damaligen Präsidenten Felipe Calderon (Partei der Nationalen Aktion, PAN) begonnen wurde, sind nach Angaben der Regierung und dem Zentrum zur Überwachung von internen Vertreibungen mehr als 155 000 Personen ermordet und 300 000 gewaltsam vertrieben worden. Wie eine internationale Expertenkommission der britischen Zeitung The Lancet und der Johns Hopkins Universität angab, hat das “unerträgliche Niveau an Gewalt, Unsicherheit und Korruption zu massiven Vertreibungen in Mexiko und Zentralamerika geführt, welches dem Niveau von Kriegsgebieten gleich kommt”. Nach Meinung von Gilberto López y Rivas, Anthropologe und Mitarbeiter von La Jornada, hat das gewaltsame Verschwindenlassen einen politischen Charakter: Den sozialen Kampf vernichten um das Vorankommen des Neoliberalismus und seiner Unternehmen zu erleichtern. “Vom politischen Aspekt aus gesehen, lässt uns das Phänomen des Verschwindenlassens oder der außergerichtlichen Hinrichtungen sehen, was sie mit diesen erzwungenen Praktiken erreichen wollen, nämlich den Widerstand unserer Dörfer zerstören”.
Diverse Beobachtungseinrichtungen und Organisationen der Verteidigung der Menschenrechte haben sich zu der Situation geäußert. So zum Beispiel die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH), die durch ihren Besuch in Mexiko “feststellen konnte, dass das Verschwinden von Personen in großen Teilen Mexikos ein kritisches Niveau erreicht hat”, oder aber das Büro des Hohen Kommissariats der ONU für Menschenrechte, das versicherte, dass Mexiko “eine kritische Situation im Bereich der Entführungen” vorweist. Ebenfalls stechen die Erklärungen der Angehörigen von verschwundenen Personen hervor, sowie die von Nadín Reyes aus dem Komitee von Angehörigen “Bis wir sie finden”, die behauptet, dass das gewaltsame Verschwindenlassen in Mexiko “Teil einer systematisch generalisierten Politik des Staates ist”, ein Verbrechen “gegen die Menschheit” das sowohl die Angehörigen, die Opfer, als auch die Bevölkerung angreift.
Nichts Neues
Die Zeit von 2006 bis heute gilt als die Phase des höchsten Anstiegs an gewaltsamen Verschwindenlassen in Mexiko seit den 70ern, als es eine Welle von verschwundenen Personen gab, die im Zusammenhang mit dem “schmutzigen Krieg” standen- eine Epoche in der der Staat versuchte die oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen, die Reformen im Agrar- und Gesundheitssektor, in der Bildung, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit forderten. Auf nationaler Ebene verschwanden um die 1350 Personen, 650 von ihnen im Bundesstaat Guerrero, wie die Arbeitsgruppe der ONU im Jahr 2012 angab. Laut ihren Angaben war die Absicht hinter diesen Aktionen die Unterstützung für verschiedene bewaffnete, abtrünnige Gruppen in der Region zu entschärfen.
Einer der Vorzeigefälle ist der von Rosendo Radilla Pacheco, Bauer und Sänger von sog. Corridos, der nach seiner Festnahme in einem Militärkontrollpunkt im August 1974 in Atoyac de Álvarez, Guerrero, nicht wieder aufgetaucht ist. Rosendo, der Bezirkspräsident war und im Gesundheits- und Bildungssektor für sein Dorf gearbeitet hatte, wurde das letzte Mal an der alten Militärkaserne in Atoyac gesehen. Derzeit sucht die Familie weiterhin nach der Wahrheit, sie fordern seine Rückkehr und erheben Anspruch auf Gerechtigkeit.
Im Unterschied zu den begangenen Taten während des „schmutzigen Krieges“, die sich zum Großteil gegen AktivistInnen oder Anhänger von abtrünnigen Gruppen richteten, verschwinden Personen heute ohne eine soziale oder politische Mitgliedschaft, viele von ihnen im arbeitsfähigen Alter, wie Organisationen der Zivilgesellschaft feststellen. Man vermutet, dass ein Teil der verschwundenen Personen von Gruppen des organisierten Verbrechens entführt worden sind und gezwungen werden, Zwangsarbeit für die Kartelle zu leisten, die mit ihren Aktivitäten wie dem Drogenanbau und der Produktion von Drogen zusammenhängt. In den letzten Jahren hat man ebenfalls einen Anstieg des Verschwindens von hochqualifizierten Personen registriert. Zum Großteil handelt es sich bei ihnen um Ingenieure mit Erfahrung in der Montage von Antennen, sowie Architekten, Ärzte und Tierärzte. Laut dem Präsidenten des Ausschusses für Sicherheit im Senat der Republik ist es „weder Zufall noch nebensächlich, dass qualifizierte Personen in diesen Gebieten verschwunden sind“. Das Militär und die Marine haben ausgefeilte Kommunikationssysteme mit über 400 Antennen gefunden, die, so vermutet man, von verschwundenen Spezialisten für das organisierte Verbrechen entwickelt wurden.
Unter dem Mantel der Straflosigkeit
Obwohl Mexiko im Jahr 2008 die internationale Konvention zum Schutz aller Personen gegen das gewaltsame Verschwindenlassen ratifiziert hat, bleibt der Kampf gegen dieses Problem weiter unwirksam. „In Mexiko spielt es keine Rolle, ob es sich bei einem Fall von Verschwinden um einen verborgenen oder einen Fall mit Öffentlichkeitswirkung handelt- die Behörden scheinen unfähig, solide und amtliche Antworten zu geben, die Aussicht darauf geben, die Wahrheit zu finden und Gerechtigkeit zu garantieren“, urteilte Amnesty International.
Einige Organisationen und Angehörige von Verschwundenen haben festgestellt, dass die Suche nach Personen mit unbekanntem Aufenthaltsort generell unzulänglich ist. „Unser Land hat keine Suchmechanismen“, bestätigte die Mutter einer jungen Verschwundenen. Es gibt unzählige Zeugenaussagen darüber, dass die zuständigen Behörden nicht die einfachsten Ermittlungen starten, die man bräuchte. Sie beginnen spät mit den Untersuchungen und in einigen Fällen ermitteln sie gar nicht. Außerdem haben einige Familien angegeben, ohne Interesse, auf verletzende Art und Weise oder unzulänglich von den zuständigen Instanzen angehört worden zu sein: „Als ich die Anzeige machen wollte, haben sie uns gesagt, sie sei mit ihrem Freund weggegangen. Das ist das, was sie sagen; sie gehen, weil sie es wollen. Wir fühlen einen tiefen Schmerz! Wenn unsere Kinder verschwinden, wissen wir nicht was zu tun ist, an wen wir uns wenden können, wo uns jemand hilft, unsere Kinder zu finden“, äußerte die Mutter eines verschwundenen Mädchens. Manchmal verweigern sie amtliche Untersuchungen, oder fordern sogar Bezahlungen, um Untersuchungen durchzuführen oder die Ermittlungen voranzubringen. Außerdem hat die CIDH Anzeigen wegen Bedrohungen und Einschüchterungen von Angehörigen erhalten, damit diese mit der Suche nach der Wahrheit und der Gerechtigkeit aufhören. Eine Mutter gibt an: „Sie sagen mir, ich solle nicht mehr suchen, weil sie mir sonst die Zunge abschneiden. Suche nicht mehr, sonst werden auch deine anderen drei Kinder verschwinden und nur in deiner Erinnerung am Leben bleiben“. Viele Familien sind aufgrund von Unterdrückung von Seiten der Täter umgezogen.
Es existieren einige Stimmen, die dem Staat vorwerfen, in Bezug auf die Justizausführung in Fällen des Verschwindenlassens eine Politik der Simulation auszuüben. Laut AI, „scheinen die Ermittlungen im Großteil der Fälle nicht zur Wahrheitsfindung beizutragen. Die Behörden beschränken sich auf einige Aktionen, die wenig Nutzen für die Ermittlungen haben. Diese Ermittlungsform ist nur eine Formalie, die zunächst zielführend scheint, aber vergeblich ist”. Darüber hinaus gibt es Fälle von verschwundenen Personen, die kriminalisiert werden, in denen dem eigentlichen Opfer Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgesagt werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass laut dem Komitee gegen gewaltsames Verschwindenlassen der ONU, auf Bundesebene bisher nur sechs Verurteilungen im ganzen Land wegen des Delikts des gewaltsamen Verschwindenlassens ausgesprochen wurden.
Für mehr Information:
- Amnistía Internacional: “Un trato de indolencia”. La respuesta del Estado frente a la desaparición de personas en México.
- Organización de las Naciones Unidas: La desaparición forzada en México: una mirada desde los organismos del Sistema de Naciones Unidas.