AKTIVITÄTEN VON SIPAZ (Von Mitte November 2014 bis Mitte Februar 2015)
21/02/2015SIPAZ: 20 Jahre an der Seite von Lichtern der Hoffnung
02/06/2015Die transnationale Migration ist offenkundig im Wachstum begriffen. Hunderttausende Personen versuchen Jahr um Jahr die Grenze zu den Vereinigten Staaten von Amerika zu überwinden, auf der Suche nach Arbeit, einem Einkommen und einem Gewissen Maß an Sicherheit und somit mehr Lebensqualität. Unter den Migranten, die Mexiko durchqueren, finden sich ebenso mexikanische Staatsbürger, wie Personen aus anderen, hauptsächlich zentralamerikanischen Ländern, die in ihrer Mehrheit ohne legalen Status unterwegs sind. Wie bereits im „FOKUS: Zentralamerikanische Migration in die USA – Die Anerkennung der Flüchtlingsrechte auf der ‚Höllenroute'“ (SIPAZ-Bericht im September 2014) deutlich wurde, ist der Weg durch Mexiko schwer und gefährlich. In diesem Bericht soll nun differenziert auf die Auswirkungen der Migration auf Frauen eingegangen werden.
Frauen, die bleiben
In Chiapas begann der Anstieg der Migration im Jahre 1994, als das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft trat. Dieses brachte eine Reihe von neoliberalen Wirtschaftsreformen mit sich, die sich in steigender Armut, insbesondere der kleinbäuerlichen Bevölkerung, niederschlugen. Gerade aus Gründen der familiären Existenzsicherung – wobei Land- und Hausbesitz eine wichtige Rolle spielen – haben sich die Wanderungsströme in die Großstädte Mexikos sowie in die USA verstärkt. Die Migration hat indes sowohl das Leben der Frauen verändert, die selbst ihre Heimat verließen, als auch das jener Frauen, deren Lebenspartner fortgingen. In einem Interview berichtete uns die Organisation „Voces Mesoamericanas A.C., zivile Vereinigung der Aktion mit migrierenden Völkern“ von den Wandeln, die sie beobachten.
Eine Situation, die immer häufiger vorzufinden ist, stellen die Frauen dar, die nach dem Fortgang ihrer Partner als Familienoberhäupter zurückbleiben. Sie müssen somit sowohl die Arbeit innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser übernehmen, müssen sich um die Kinder kümmern, den Haushalt führen sowie das Land bestellen. Einige nutzen monatliche Geldsendungen der Ehemänner, um landwirtschaftliche Arbeiter auf ihren Feldern zu beschäftigen. Andere eröffnen kleine Läden, um ihre Familie zu versorgen oder ein zusätzliches Einkommen zu erhalten. In jedem Fall wächst ihre familiäre und wirtschaftliche Last.
Ein anderer Aspekt dieser Situation ist, dass viele Frauen unter der Kontrolle ihrer Schwiegerväter oder Schwäger verbleiben. Sie bleiben keinen Moment lang unbeobachtet, werden begleitet und beschattet, wenn sie das Haus verlassen, was dementsprechende psychische Auswirkungen hinterlässt. Sie haben keine Möglichkeit, sich mit anderen Frauen über ihren Schmerz und ihre Trauer auszutauschen, was die Verarbeitung ihrer Trennung erschwert. Auch wenn zunächst noch telefonisch Kontakt zum Partner im Ausland gehalten wird, nimmt dieser oft im Laufe der Zeit ab, was nicht selten mit Alkohol- und Drogenkonsum oder einer neu gegründeten Familie zusammenhängt. Damit geht manchmal auch die Reduzierung oder gar Einstellung der monatlichen Geldsendungen einher.
In den Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca mussten viele der Frauen, deren Männer fortgezogen sind, deren Ämter und Posten übernehmen, um die Gemeindestrukturen zu erhalten. Auf diese Weise hat die Migration dazu beigetragen, dass traditionell männliche Bereiche nun von Frauen mitgestaltet werden. Im Hochland von Chiapas gibt es diese Übernahme von Ämtern durch die Frauen nicht. Hier haben sich die Gemeinden für ein System von Strafzahlungen entschieden, um der Migration Einhalt zu gewähren, sodass die Männer gezwungen werden, in ihren Gemeinden zu bleiben bzw. dorthin zurückzukehren, um den dortigen Pflichten nachzukommen. Die Strafen sind umso höher, je wichtiger das Amt ist. Wenn sie nicht gezahlt werden, können den Männern ihre Rechte als Mitglied der Gemeinde entzogen werden, seien sie Ejidatarios, Pächter oder Besitzer sonstiger Landrechte. Manche Männer ziehen es vor, nicht zurückzukehren, und werden somit zusammen mit ihren Frauen und Erben aus der Gemeinde ausgeschlossen. Wenn in diesen Fällen die weiblichen Familienoberhäupter ohne Land zurückbleiben, suchen sie oft Unterschlupf bei Angehörigen, zum Beispiel bei ihren Müttern. Die Übertragung der Bußgelder von den Männern auf ihre Frauen vergrößert deren Schutzlosigkeit noch weiter.
Frauen, die migrieren
In der Regel haben Frauen, die aus Chiapas fortgehen, die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, die sich von der Routine in ihrer Gemeinde unterscheiden. Manche brechen auf eigene Entscheidung hin auf, unabhängig von ihrem Partner, andere folgen der Weisung ihres Bruders, Vaters oder Ehemannes. Manche nehmen ihre Kinder mit sich, andere leiden darunter, ihre Kinder bei den zurückbleibenden Familienmitgliedern gelassen zu haben. Laut Voces Mesoamericanas berichten viele der ausgewanderten Frauen stolz, dass dieser Schritt ihnen ermöglicht hat, sich von den Kontrollmechanismen ihrer Gemeinden oder gewalttätigen familiären Beziehungen zu lösen. Es ist noch immer ein verbreitetes Problem, dass der Alkoholkonsum vieler Familienväter zur Gewalt gegen ihre Ehefrauen und in selteneren Fällen auch gegen die Kinder führt. Auch wenn sie oftmals in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse eintreten, erleben die Frauen in ihrer neuen Heimat mehr Autonomie und die Fähigkeit, über ihr Leben und ihr Einkommen selbst zu entscheiden. Bei ihrer Rückkehr können sich manche von ihnen ein Stück Land kaufen oder ein eigenes Geschäft aufbauen. So wird die Migration mittlerweile, sei es zum Studieren oder zum Arbeiten, als Fluchtmöglichkeit und Entscheidungsautonomie, als Akt der Rebellion und des Ungehorsams angesehen. Schon in der Vorstellungswelt der Jugendlichen spielt die Migration ein Rolle: für Sie ist es ein Fluchtweg; für Ihn ist es ein Ritual des Übergangs vom Kind zum Mann, der Eingliederung in die Gruppe der Erwachsenen und Ernährer. Je weiter weg der Weg führt, umso mehr Anerkennung gibt es durch die Familie.
Durch ihre Erfahrungen in der Migration haben viele Frauen die Beziehungsmuster innerhalb ihrer Familien oder zu ihren Partnern verändert. Mit steigender Autonomie gewinnt auch ihre Rolle innerhalb der Familie an Bedeutung. Einigen Migrantinnen kommen außerdem die Schutzmechanismen ihrer neuen Wohnorte zu Gute, so zum Beispiel Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen, durch die sie neue Formen der Beziehung kennen lernen.
In einer speziellen Situation befinden sich allerdings die Frauen aus dem Hochland von Chiapas, die alleine migrieren und anschließend wieder in ihre Gemeinden zurückkehren. Oftmals werden sie von ihrer Gemeinde stigmatisiert und verstoßen, weil sie auf ihrer Reise angeblich Affären mit anderen Männern gehabt haben. Statt in ihre Heimat zurückzukehren, sehen sich diese Frauen also gezwungen, sich einen neuen Wohnort zu suchen. Häufig wählen sie die Hauptstädte der Munizipien oder Randbezirke von San Cristóbal de Las Casas.
Die zentralamerikanische Migration in die USA
Offizielle Zahlen existieren zwar kaum, aber laut Amnesty International werden tagtäglich zentralamerikanische Migranten auf ihrem Weg in die USA von Banden des organisierten Verbrechens angegriffen, ausgeraubt, erpresst, vergewaltigt, entführt und ermordet. Das Washington Office on Latin America (WOLA) schätzt die Zahl der Entführungen von Migranten pro Jahr auf 20.000. Der Sonderberichterstatter über Migration der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) erachtet die Tragödie der illegalen Migranten in Mexiko für „nicht weniger gravierend als die von Ayotzinapa“. Angesichts dieser Tatsachen verabschiedete die mexikanische Regierung im Juli 2014 den „Plan Frontera Sur“, scheinbar um die Sicherheit der Migranten zu garantieren. In Wahrheit ist es aber bloß ein weiterer Versuch, die Flüchtlingsströme in die USA zu stoppen. Das Programm erschwert nämlich die Reise durch Mexiko, indem zum Beispiel die Fahrt auf dem Güterzug „La Bestia“ gesetzlich verboten wurde, weshalb sich die Migranten gezwungen sehen, sich noch gefährlichere Routen zu suchen, auf denen sie dem organisierten Verbrechen noch stärker ausgeliefert sind. Von dieser Schutzlosigkeit sind Frauen in besonderem Maß betroffen.
Sexuelle Gewalt gegen Migrantinnen
Die zentralamerikanischen Migrantinnen kommen aus Ländern, in denen im Allgemeinen viel Gewalt herrscht, und befinden sich auf der Durchreise durch ein Land, das ebenso von soziokulturellen Mustern geprägt ist, die Frauen diskriminieren. Sie sind hier nicht nur Frauen, sondern zudem Migrantinnen und Illegale. So werden sie systematisch Opfer von Gewaltakten, wie Zwangsprostitution, Menschenhandel zur sexuellen oder wirtschaftlichen Ausbeutung, Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch, vielfältiger Formen von physischer, sexueller oder psychologischer Formen der Gewalt durch Partner, Angehörige, Begleiter, Schlepper, Beamte oder andere Akteure. Einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahre 2010 zufolge werden sechs von zehn Frauen auf ihrem Weg durch Mexiko Opfer von sexueller Gewalt.
Diese Gewalt kann schwere gesundheitliche Folgen für die Opfer haben, wie die Ansteckung mit dem HIV-Virus oder anderen Geschlechtskrankheiten, ungewollte Schwangerschaften, Zwangsabtreibungen oder fehlende medizinische Schwangerschaftsversorgung. In dem Bericht „Der Aufbau eines Modells zur Betreuung von Migrantinnen in Mexiko, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind“ von der zivilen Organisation Sin Fronteras aus dem Jahr 2012 heißt es: „Frauen, die durch isolierte Gebiete oder auf dem Zug reisen, laufen in hohem Maße Gefahr, Opfer von sexueller Gewalt durch das organisierte Verbrechen, Kleinkriminelle, andere Migranten oder gar korrupte Migrations- oder Justizbeamte zu werden. Die sexuelle Gewalt ist Teil des Terrors, dem die Migrantinnen und ihre Familien ausgesetzt sind, und wird offenbar teilweise als eine Art Wegezoll eingesetzt. Die sexuelle Gewalt ist auf der Reise so latent, dass manche Schlepper die Frauen anweisen, sich vor Antritt eine empfängnisverhütende Substanz zu spritzen, um gegen ungewollte Schwangerschaften nach Vergewaltigungen geschützt zu sein“.
Der Bericht von Sin Fronteras zeigt auch auf, dass „sexuelle Gewalt zu einem normalisierten, gesellschaftlichen Problem geworden ist und durch eine ungenügende staatliche Antwort in den Bereichen Prävention, Protektion und Achtung von Menschenrechten verschärft wird. […] falls sich Frauen dazu entscheiden, Anzeige zu erstatten, gibt es Defizite bei der Untersuchung, dem Verfahren und der Ahndung von Fällen der sexuellen Gewalt. Obwohl in Mexiko für den Prozess der Anzeige Mechanismen zur Aufnahme, Betreuung und Prävention existieren, finden diese bei den Frauen im Transit keine Anwendung. So erschweren fehlende Schutzmechanismen für die Opfer und fortwährende soziokulturelle Muster der Diskriminierung, die die Opfer erniedrigen, indem von ihnen zum Beispiel Beweise für den Gewaltakt gefordert werden, den Schritt zur Anzeige“. Schließlich entschließen sich viele Migrantinnen, die ihnen widerfahrene Gewalt nicht anzuzeigen, weil sie wegen ihres illegalen Status Angst vor einer Deportation in ihr Heimatland haben.
Frauen, auf der Suche nach Angehörigen
Ein anderer Aspekt, der bei der zentralamerikanischen Migration hervorsticht, ist die führende Rolle, die die Frauen bei der Suche nach verschwundenen Angehörigen einnehmen. Im vergangenen Dezember fand die zehnte „Karawane der zentralamerikanischen Mütter: Brücken der Hoffnung“ statt. Dabei durchreisten Mütter aus Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua eine Route durch zehn Bundesstaaten Mexikos. Der Erfolg der Karawane zeigte sich in der Wiedervereinigung von drei Familien: Eine Frau fand ihren Bruder nach 17 Jahren wieder und zwei Mütter ihre Söhne nach jeweils 15 und 10 Jahren. Obwohl die mexikanische Regierung offiziell nur 157 vermisste Personen ausländischer Nationalität zählt, schätzen zivile Organisationen die Zahl der in Mexiko verschwundenen Migranten auf mindestens 70.000.
Frauen, die helfen
Die Passivität der Behörden gegenüber der Misere der zentralamerikanischen Migranten war auch der Anlass für die Gründung einer Gruppe von Frauen in der Gemeinde Guadalupe, La Patrona, im Bundesstaat Veracruz, um den Migranten auf ihrem Weg zu helfen. Nach der Abschaffung des Passagierzuges (im Zuge der Privatisierung der nationalen Eisenbahngesellschaft Mexikos) mussten sich die Migranten andere Fortbewegungsmittel suchen, sodass sie damit begannen auf dem Güterzug, heute besser bekannt als „La Bestia“, das Land zu durchqueren. Den Berichten der Gründerinnen zufolge, verließen am 14. Februar 1995 gerade ein paar Frauen einen Lebensmittelladen, als sie von vorbeifahrenden Personen auf dem Zug um Essen angefleht wurden. Die Frauen warfen den Bedürftigen kurzerhand ihre Einkaufstüten zu und riefen so die Initiative der „Patronas“ ins Leben. „Ich hatte mich immer nur dem Haushalt gewidmet und der Feldarbeit. Ich wusste nicht, dass ich die Möglichkeit habe zu helfen“, erzählt eine der Gründerinnen, Norma Romero. Die Frauen spürten aber die Notwendigkeit, angesichts der menschlichen Krise vor ihren Augen zu handeln. Heute bereiten sie täglich etwa 20 Kilo Bohnen und Reis zu und speisen damit die Migranten, die auf der „Bestia“ ihre Gemeinde gen Norden passieren.
An der 20. Jahrfeier ihres Bestehens nahmen Persönlichkeiten wie Raúl Vera López, Bischof von Saltillo, Alejandro Solalinde von der Herberge „Brüder auf dem Weg“ in Oaxaca und Fray Tomás González von der Herberge „La 72″ in Tenosique, Tabasco, teil. Während der Veranstaltung wurde der „Plan Frontera Sur“ heftig als „Rassensäuberung“ kritisiert, da er aus einer Reihe von Maßnahmen bestehe, die die Menschenrechte der Migranten nicht anerkennen und stattdessen die Bedingungen ihrer Reise erschweren würden. Bischof Raúl Vera López hob hervor, dass „die Frauen aus der Gemeinde La Patrona dem Egoismus, dem Hochmut und der Gier der Politik und der Regierungen widersprechen, welche zum Chaos geführt haben, aus dem die Menschen fliehen müssen, um zu überleben“.
All diese Schicksale von Frauen, die auf verschiedene Arten von der Migration betroffen sind, offenbaren ein gemeinsames Motiv: das Streben nach einem besseren Leben. Seien es die Frauen, die in ihren Gemeinden zurückbleiben und sich mit wirtschaftlichen Problemen oder gesellschaftlichen Zwängen konfrontiert sehen, angesichts derer sie sich emanzipieren müssen. Seien es die Frauen, die ihre Heimat verlassen, um in der Fremde ein freieres und selbstbestimmteres Leben zu finden. Die Reise, die sie antreten, ist gefährlich und birgt spezielle Gefahren für Frauen, daher ist es umso wichtiger, dass ihnen Hilfe zukommt. In diesem Sinne ist der Aktivismus der „Patronas“ ein beispielhafter und emanzipierter Kampf gegen eine ergebnislose Politik, die nur auf die Kontrolle der Migrationsströme abzielt. Trotz aller Gefahren besiegt der Antrieb zum Wandel die Angst, wie dieses Zitat einer Migrantin verdeutlicht: „Wir haben beschlossen fortzugehen, um etwas im Leben zu erreichen und damit wir unseren Kindern ein besseres Leben ermöglichen können“.