FOKUS : Die Herausforderungen des Friedens und die Versöhnung in Chiapas
28/02/2002ZUSAMMENFASSUNG : Empfohlene Aktionen
30/08/2002FOKUS : Mythos und Realität der Agrarfrage in Chiapas
„Sie nehmen uns unser Land weg, und darauf errichten wir für die Bosse Flughäfen und werden niemals in einem Flugzeug reisen. Wir bauen Autobahnen, und wir werden niemals ein Auto besitzen. … Wir bauen Einkaufszentren, und wir werden niemals Geld haben, um in ihnen einzukaufen. Wir errichten städtische Zonen mit allem Service und wir werden sie nur von weitem sehen. Kurzum, wir errichten eine Welt, die uns ausschließt, die uns niemals akzeptieren wird, und die nichtsdestotrotz niemals ohne uns existieren würde.“
(Wortr der EZLN im Polytechnischen Institut von Mexiko-Stadt am 16. März 2001)
Mehr als acht Jahre nach dem Aufstand der Zapatisten bleibt für die Mehrheit der sich zuspitzenden Konflikte und Spaltungen in Chiapas die Landfrage ein zentrales Thema. In diesem ärmsten Bundesstaat leben weiterhin zwei Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Allein dieser Umstand erklärt schon die primäre Bedeutung, die der Landwirtschaft in den Konflikten zukommt. Nichtsdestotrotz sind die Ursachen tiefgreifender und hängen mit einem Wirtschaftssystem zusammen, das den Bauern – in ihrer Mehrheit Indígenas – wenig Alternativen bietet.
Die Auswirkungen des Aufstands von 1994
Obwohl 1992 die Landreform von der Regierung für abgeschlossen erklärt wurde, wirkte der bewaffnete Aufstand der Zapatisten 1994 wie ein Katalysator für den Kampf um Land in Chiapas, und war zudem eine günstige Gelegenheit für die sozialen Bewegungen, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die Aneignungen von Land nahmen zu, neben Zapatisten sind auch andere Organisationen beteiligt. „Mit der Gründung des Rates indigener Organisationen und Bauern im Bundesstaat (CEOIC) Ende Januar 1994 beginnt ein Prozeß breiter Mobilisierung, an dem sich aus insgesamt 11 Organisationen mindestens 8000 Menschen beteiligen, die Land fordern. In den ersten sechs Monaten 1994 dringen sie in 340 private Ländereien ein, die eine Gesamtfläche von 50.000 Hektar ausmachen.“ (Harvey)
1996 schlossen 62 Bauernorganisationen, sowie 85 unabhängige Gruppierungen, landwirtschaftliche Abkommen. Die Regierung versprach, Lösungen für die Forderungen nach Land zu suchen. Im Gegenzug verpflichteten sich die Bauernorganisationen, kein Land mehr zu besetzen, Ländereien, die nicht zum Erwerb freistanden, zurückzugeben, sowie keine weiteren Forderungen mehr nach Land zu stellen. Ein einfacher Vergleich der besetzten Fläche (mehr als 50.000 Hektar) und der Fläche, die die Grundbesitzer zu verkaufen bereit waren (11910 Hektar), macht jedoch das Ausmaß des Problems deutlich. Die Regierung versuchte das Landproblem auf kurze Sicht zu lösen; die Besetzungen von Land gingen also weiter und werden vermutlich weiter gehen, bis fundamentale, an die Strukturen gehende Lösungen gefunden werden. (Reyes)
Dennoch hatten diese Verhandlungen Auswirkungen: bis 1995 unterstützten viele Bauernorganisationen die EZLN in ihrem Kampf; diese Bindungen lösten sich jedoch, nachdem einige Organisationen sich entschieden, mit der Regierung Teilabkommen auszuhandeln.
Weitere Steine im Puzzle
Es wäre unmöglich, die ganze Breite des Landkonflikts in Chiapas in einem so kurzen Artikel darzustellen. Deshalb zählen wir nur kurz einige seiner Komponenten auf.
Erstens, der landwirtschaftliche Konflikt ist enorm politisiert. Viele der Forderungen nach Land sind begleitet von Forderungen nach Demokratie, Gerechtigkeit und der Einhaltung der Menschenrechte. Dies erscheint um so verständlicher in einer Situation, in der Vertreibungen gewöhnlich von Rechtsverstößen wie willkürlichen Verhaftungen, aber sogar auch Morden, begleitet werden.
Zweitens, im Gegensatz zu dem, was viele denken, ist das Problem der Großgrundbesitze (Latifundien) in der Konfliktzone schon nicht mehr relevant. „Das Gemeindeeigentum und die kleinen Privatbesitzungen bis 5 Hektar machten 1990 mehr als 77% des gesamten zur Verfügung stehenden Landes aus, in vielen Gemeinden in Los Altos überstieg dieser Prozentsatz sogar 90%.“ (Viqueira)
Auf der anderen Seite, bedingt durch das konstante Bevölkerungswachstum, nimmt das Land, das dem einzelnen Bauern zur Verfügung steht, stetig ab. Dies verstärkt die Tendenz, nur für die eigenen Bedürfnisse zu produzieren, wodurch die Produktivität abnimmt. In den Zonen, in denen die Minifundios (die bearbeitete Fläche ist klein) vorherrschen, verfügen mehr als 75% der Bevölkerung über ein Einkommen unter dem Mindestlohn. (Viqueira)
Drittens, selbst wenn die Regierung alles Land neu verteilen würde (was sie vorgibt bereits getan zu haben), würde bei dem derzeitigen Bevölkerungswachstum (2.12% pro Jahr), immer mehr Land benötigt werden. Augenblicklich sind 51% der Bevölkerung in Chiapas jünger als 20 Jahre. Daher werden die Forderungen nach Land nie nachlassen, wenn sich für die wirtschaftliche Entwicklung oder die Beschäftigung keine Alternativen ergeben. Nicht ohne Grund hat die Migration in die Städte und in die USA in den vergangenen Jahren stetig zugenommen.
Viertens, es existieren nur geringe Möglichkeiten, außerhalb der Landwirtschaft Arbeit zu finden. Zudem hat die indigene Bevölkerung aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Bildung kaum Chancen.
Fünftens, die ihnen zur Verfügung gestellten Flächen waren die am wenigsten fruchtbaren; es gibt kaum Bewässerungssysteme, und die Viehzucht beschleunigt die Vernichtung landwirtschaftlich nutzbarer Fläche. Hinzu kommen Schwierigkeiten, strikte Umweltschutzgesetze in einer Region umsetzen zu wollen, in der die Forderungen nach Land nicht nachlassen. Das bekannteste Beispiel ist das Biosphärenreservat Montes Azules (in der Selva), wo weiterhin 40 indigene Gemeinden von der Vertreibung bedroht sind.
Gesetzmäßigkeit und Legitimität
Der Streit zwischen Bauern um Land ist so alt wie die priistische Politik, die selben Ländereien an mehrere Parteien gleichzeitig zu vergeben, um dadurch jegliche Organisierungsansätze zu spalten und zu schwächen. Nach 1994 bildeten die Landneuaufteilungen einen Teil der Strategie der Aufstandsbekämpfung, Ziel war es, die Zapatisten zu isolieren und einzukreisen. In zahlreichen Fällen wurden Ländereien, die von Zapatisten besetzt worden waren, an der Regierung näher stehende Bauernorganisationen übergeben.
Eine andere Schwierigkeit besteht zur Zeit durch die Spaltungen zwischen Organisationen, die früher zusammenarbeiteten: sind die zurückgewonnenen Ländereien (d.h. die von den Zapatisten seit 1994 besetzten) im Besitz der Gemeinde? In mehr als einem Fall haben Organisationen, die mit der EZLN zusammenarbeiteten, vor der Regierung Anspruch auf Ländereien zugunsten aller (auch der Zapatisten) erhoben. In der heutigen Situation zunehmender Spaltung zwischen den Organisationen besteht ein Konflikt zwischen Gesetzmäßigkeit (Eigentumsrecht) und Legitimität. In der Selva war in letzter Zeit öfters von den Zapatisten der Satz zu hören: „Wir haben unser Blut vergossen“.
Sorgen macht der EZLN, daß Organisationen, die ihr jetzt ablehnend gegenüberstehen, Land an Dritte verkaufen könnten, was im Einklang mit der Verfassungsreform von 1992 wäre, denn durch sie wurde der Verkauf von Gemeindeland legal. In Cuxuljá aufgestellte Schilder (Ort eines jüngst schweren Konflikts diesen Typs) zeigen dies deutlich: „Die Erde ist unsere Mutter, sie ist weder käuflich noch verkäuflich“, „Die Erde ist keine Ware, sie zu verkaufen wäre Verrat“
Oftmals verbirgt sich hinter dem Streit um Land ein Kampf um politische Kontrolle und Hegemonie über ein Territorium und seine Bewohner.
Eine weitere Quelle von Spannungen ist die an viele Regierungsprogramme geknüpfte Bedingung, daß Bauern zunächst nachweisen müssen, rechtmäßige Besitzer ihrer Ländereien zu sein. Dies kollidiert aber mit dem Ejido-System (Kommunalbesitz), das in vielen indigenen Zonen weiterhin vorherrschend ist.
Ein Problem ohne Lösung?
Auch wenn der Kampf um Land in Chiapas schon lange nicht mehr gegen die Großgrundbesitzungen geht – weil es sie kaum mehr gibt -, bestehen weiterhin gravierende Ungleichheiten. Die Nachfrage nach Land wird aus den genannten Gründen nicht nachlassen: das Bevölkerungswachstum, die Ausdehnung der Viehwirtschaft, die Schwierigkeiten einer effizienteren Bearbeitung der zur Verfügung stehenden Fläche und die fehlenden Möglichkeiten, in anderen Bereichen eine Anstellung zu finden; was zusammengenommen die Unfähigkeit des bestehenden Systems darstellt, eine Antwort auf die Probleme der Bauern zu finden.
Ende April erkannte der Sekretär der Regierung von Chiapas für die indigenen Völker, Porfirio Encino, an, das es in wenigstens 40 Orten der Gemeinden von Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas Streitigkeiten gäbe. Außerdem bestätigte er, daß über die Landprobleme hinaus „die Wurzel dieser Probleme in Zusammenhang mit dem Dialog (der zwischen der Regierung und der EZLN ausgesetzt wurde) mit der EZLN und der Nichterfüllung der Abkommen von San Andrés steht“.
In diesem Zusammenhang lohnt es, die Kritik aufzugreifen, die sowohl an der im vergangenen Jahr vom Kongreß verabschiedeten Verfassungsreform zu indigenen Rechten wie auch am Plan Puebla Panamá geübt wurde: die Indígenas wollen nicht länger Objekte einer sie unterstützenden Politik sein, vielmehr wollen sie Subjekte und Teilnehmer der Diskussion sein; ausdrücklich nicht nur in Punkten der Agrarpolitik, sondern in allem, was mit ihrem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in Zusammenhang steht. Der jetzige Moment verlangt nach einer umfassenden Neuformulierung und nicht nach Teillösungen oder Lösungen auf kurze Sicht.
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DAS LANDWIRTSCHAFTLICHE PROBLEM: EIN ERBE DER VERGANGENHEIT
Unübersehbare Bedeutung haben in der aktuellen Problematik politische Entscheidungen der Vergangenheit, Entscheidungen die im großen und ganzen gekennzeichnet waren von Repression und Reformen, die „die Form einer diskreten Regelung zwischen den Landbesitzern und der Regierung im Bundesstaat annahmen. Diese Politik entwickelte sich durch die Anpassung an die Erfordernisse des Systems und war davon geleitet, den Großgrundbesitz zu schützen und nebenbei die Wählerstimmen des Landes für die offizielle Partei zu sichern“ (García de León).
Einer der Erfolge der mexikanischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Einleitung einer Landreform, in Chiapas jedoch leiteten die Landbesitzer mit Erfolg eine Konterrevolution ein, die ihnen ihre Privilegien bewahrte. Die Agrargesetze der 20iger Jahre waren ebenfalls zu ihrem Vorteil.
Erst in den sechs Jahren unter Lázaro Cárdenas (1934- 1940) wurden bedeutende Aufteilungen des Landes in Chiapas durchgesetzt. 1940 existierten dann auch nur noch die Hälfte der Großgrundbesitze, die es noch 1900 in Chiapas gegeben hatte; trotzdem verblieben die hochwertigsten Ländereien im Besitz der Großgrundbesitzer (Gómez und Kovic). Gleichzeitig förderten die politischen Entscheidungen in der Region die Entwicklung der Viehwirtschaft.
Zwischen 1940 und 1965 war die Politik danach ausgerichtet, Importe durch in Mexiko hergestellte Produkte zu ersetzen, die Industrie wurde gegenüber der Landwirtschaft bevorzugt. Im Ergebnis sank der Anteil der landwirtschaftlichen Produktion am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1965 und 1980 von 14% auf 7% ab; dies hatte zur Folge, daß Mexiko sich von Maisimporten abhängig machte, die mehr als die Hälfte seines Bedarfs decken mußten (Collier).
Ab 1970 – unter dem Präsidenten Echeverría- begann die verstärkte Besiedlung der Selva von Chiapas. Aber die Ungerechtigkeiten kamen bald wieder zum Vorschein, als nämlich die Bevölkerung schneller wuchs als die ihr zur Verfügung stehende Fläche. (Collier).
Ein Schlüsselmoment im Kampf um die gemeinsamen Rechte war der Indígenakongreß von 1974: die Bauern wurden sich bewußt, die gleichen Probleme zu haben, und entschlossen sich, sich zu organisieren, um Land zu fordern (Gómez und Kovic). Der Zapatismus profitierte später von diesem Prozeß zunehmender Organisierung.
Um die Interessen der Großgrundbesitzer zu schützen, gab die Regierung von Chiapas in den achtziger Jahren mehr als 5000 Zertifikate heraus, mit denen Land für die Viehzucht reserviert wurde, wodurch mehr als eine Million Hektar gegen die Landforderungen der sozialen Bewegungen geschützt waren.
Darüber hinaus waren während all dieser Jahre Landvergaben begleitet von „korrupten Beziehungen mit den bisherigen Eigentümern und den nutznießenden Bauern, von denen politische Loyalität und Beendigung der Unterstützung von Landforderungen und Besetzungen verlangt wurde“ (García de León).
- Collier, George A.: Reforms of Mexico’s agrarian code: Impacts on the Peasantry. Background of the rebellion in Chiapas. (1994).
- García de León, Antonio: Fronteras interiores. Chiapas: una modernidad particular (2002).
- Gómez Cruz P.J. y Kovic C.M: Con un pueblo vivo en tierra negada (1989-1993). (1994).
- Harvey, Neil: The Chiapas Rebellion. The struggle for land and democracy. (1998).
- Reyes Ramos, María Eugenia: El reparto de tierras y la política agraria en Chiapas. 1914-1988 (1992), y Espacios disputados. Transformaciones Rurales en Chiapas (1998).
- Viqueira, Juan Pedro: Los peligros del Chiapas imaginario. (Letras Libres, enero 1999)