AKTUELL: Andauernde internationale Besorgnis in Bezug auf den Kontext der Gewalt und der Menschenrechtsverletzungen in Mexiko
08/04/2016SIPAZ: “Kämpfen mit dem Herz einer Frau- Situation und Teilhabe der Frauen in Chiapas (1995-2015)” (Im Original: “Luchar con corazón de mujer- Situación y participación de las mujeres en Chiapas (1995-2015)”)
08/04/2016Ende November feierten wir mit dem Team und dem Vorstand vom Internationalen Friedensdienst (SIPAZ) gemeinsam mit mehr als 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus verschiedenen Bundesstaaten in Mexiko und aus anderen Ländern den 20. Geburtstag unserer Präsenz im Süden Mexikos. Auch wenn man die Präsenz von SIPAZ über diese 20 Jahre trotz der Herausforderungen, denen es sich zu stellen galt, an sich schon für einen Erfolg halten kann, darf man nicht vergessen, dass eine internationale Präsenz für den Frieden weiterhin notwendig ist. Eigentlich also kein Grund zum Feiern, aber wir dachten uns aufgrund der 20-jährigen Existenz von SIPAZ gibt es viele Erfahrungen über das Gelernte während unserer Zeit, unserem Weg, die geteilt werden können. Wie Ana María García von der Organisation Educación Alternativa (EDUCA) in Oaxaca und eine Referentin bei der Veranstaltung sagte, “feiern wir nicht, dass die Realität diesselbe ist, sondern wir kämpfen weiter mit Hoffnung und Würde”.
Wegen all dem organisierten wir ein Treffen, um über Ideen und über die Veränderungen im sozialen und politischen Kontext Mexikos in den letzten 20 Jahren, die Situation und Teilnahme der Frauen in Chiapas (siehe Fokus dieses Berichts), sowie mögliche Antworten und dem, was die Zivilbevölkerung gegenüber diesen Herausforderungen gelernt hat, zu sprechen. Zwei Tage trafen wir uns mit Personen unterschiedlicher sozialer Organisationen, Bürgern und Kleinbauern aus dem akademischen Umfeld und diversen Kollektiven. Trotz dem Bewusstsein der zahlreichen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die vor uns liegen, gestaltete sich die Veranstaltung als Hoffnungsschimmer mit einer positiven Einstellung.
Die ersten Schritte von SIPAZ
“Vor 20 Jahren kamen wir inmitten eines offen deklarierten Konfliktes hier an. Ein Augenblick, in dem (der Bischof) Samuel Ruiz die solidarische Gemeinschaft aufruft Präsenz zu zeigen und Alternativen zu suchen”, erinnerte der aktuelle Präsident von SIPAZ Gustavo Cabrera aus Costa Rica. Während der ersten Jahre antwortete SIPAZ mit einer “klassischen” Art der zivilen Friedensintervention. Diese Strategie vereint generell die internationale Präsenz mit der Verbreitung von Informationen auch außerhalb der Konfliktzonen. Nach einiger Zeit entschied sich SIPAZ dazu neue Arbeitsbereiche zu öffnen: Die Bildung für den Frieden, interreligiöse Dialoge und Netzwerkarbeit sollten zur Transformation des Kontextes der strukturellen Gewalt beitragen.
Im Anschluss erweiterten sich die Aktivitäten von SIPAZ auch geografisch: Seit 2006 ist SIPAZ auch in den Bundesstaaten Oaxaca und Guerrero präsent, berücksichtigt man doch die Ähnlichkeiten der Staaten mit Chiapas in Bezug auf die Armut und Marginalisierung in den sensibelsten Bereichen der Gesellschaft. So wie Martha Ramírez Galeana, eine junge Frau und Mitglied des Menschenrechtszentrums de la Montaña Tlachinollan, die an der zweiten Diskussionsrunde über Tendenzen und Herausforderungen im politischen Kontext in Mexiko teilnahm, erwähnte: “Während der 90er Jahre veränderte sich die Demokratie, und in dieser Konjunktur jährten sich 500 Jahre der Resistenz. Die Dörfer fingen an sich aufzurichten. Es schien, als wären unsere Kämpfe in Oaxaca, Guerrero und Chiapas dieselben gewesen”.
Die Dunkelheit im aktuellen Kontext
Martha Ramírez bezog sich darauf, dass man ein Aufstreben der Gemeinden der verschiedenen Regionen in Südmexiko bemerken kann, die aufgrund der schweren Repressionen, wie das Massaker in Aguas Blancas und El Charco in Guerrero, die ihnen widerfahren, Antworten gegen das System der Unterdrückung suchten, in dem sie lebten. Die Leute bemerkten, dass “der Staat spalten (wollte) und vereinte Kämpfe der Gemeinden zerstören (wollte)”. Den Wandel, den Martha im Moment beobachtet, ist die Vervielfältigung der Akteure im System der Unterdrückung. “Heute will nicht mehr nur der Staat als Tyrann (zerstören und spalten), heute nennen wir es das Dreieck der Macht: Der Staat, die Unternehmen und das organisierte Verbrechen.” Zudem existiert laut Ana María García, Mitglied bei EDUCA in Oaxaca, eine grundlegende Tendenz, die sich im aktuellen Kontext erkennen lässt: Die ‚kulturelle Ausbeutung‘, die die Gemeinden eindeutig schwächt. “Diese Strategie erschüttert die Kraft unserer Dörfer. Die Ausbeutung von Gebieten […] zum Beispiel, aber auch die Ausbeutung unserer Träume und Hoffnunen”.
Philip MacManus, der erste Präsident von SIPAZ, schickte eine Videobotschaft, die bei der Veranstaltung gezeigt wurde und sprach über die wirtschaftlichen Interessen, die das Wohlergehen und die Einigkeit der Gemeinden gefährden. “Die Spaltung ist eine große Bedrohung, die auf verschiedene Ursachen antwortet: Man muss verstehen, dass fremdes Interesse darin besteht, Spaltungen zu provozieren. Also ist es eine Herausforderung, sich diesem Phänomen gegenüberzustellen ohne in eine Perspektive zu verfallen, bei der es darum geht eine Teilung zwischen Guten und Bösen zu machen”. Eine andere Interpretation der herrschenden Dunkelheit im sozialen und politischen Kontext in Mexiko wurde durch eine Gruppe von Kindern, einige von ihnen Angehörige der vertriebenen Familien der Gemeinde Banavil im Munizip von Tenejapa, Chiapas, die bei der Veranstaltung mit ihren Eltern anwesend waren, dargeboten. Sie widmeten sich dem Malen eines Wandbildes, ein sog. Mural, von 2×3 Metern über die mexikanische Aktualität. Was mit einer Landschaft aus Pflanzen, Blumen, Hügeln, Tieren und Personen begann, endete in einem schwarzen Farbwusel. Die Kinder gaben ihrem Werkden Namen “Die Katastrophe”.
Eine andere Welt ist möglich: Eine globale Herausforderung
Bei der Veranstaltung ging es auch darum, dass der Kontext, in dem wir uns befinden auch aus einer transnationalen Perspektive betrachtet werden sollte. Dazu merkte Gustavo Cabrera an, dass “wenn die lokalen Aktuere nach einer Antwort auf ihre Situation suchen, diese Perspektive oft aus dem Blickfeld gerät. Es ist keine lokale Angelegenheit, sondern eine, die einen supernationalen oder internationalen Ursprung hat”. Genau damit, mit einem Bezug zum globalisierten Kontext in dem sich die heutige Realität befindet, begann Richard Stahler-Sholk, Vorstandsmitglied von SIPAZ und Professor an der Universität in Michigan, USA, seine Einführung zu der Diskussionsrunde zum Kontext in Mexiko. “Der Kontext dieser Runde ist global. Es ist schwer an eine mögliche Globalisierung zu denken, zudem lebt man sie, mit diesem Grundgedanken der Bewegung der “Alterglobalisierung”, der sagt ‚Eine andere Welt ist möglich‘. Man muss an diese andere Welt glauben und sich bewusst sein, dass wir diese mögliche Welt konstruieren werden”, sagte er. Dolores Gónzalez von der Organisation Servicios y Asesorías para la Paz (SERAPAZ) merkte an, dass sie in diesem globalen Kontext “drei Tendenzen” beobachtet: “Die wirtschaftliche Katastrophe, die wirtschaftliche Krise und den andauernden Krieg”. Sie machte deutlich, dass es gleichzeitig “wichtig ist, aufgrund der Dunkelheit die Lichter zu sehen: Atenco, La Parota, Paso de la Reyna, die Yaquis, San Javier, die Seris, die Dörfer im Isthmus gegen die Windanlagen, autonome Gemeinden in Chiapas und viele andere Ausdrücke von Protest”. In diesem Sinne, betonte Pietro Ameglio, von der Organisation Servicio Paz y Justicia de Morelos in Mexiko, dass “einer nach Chiapas kommt um stetig zu lernen und um etwas für das Persönliche zu lernen. Eine Definition, die sich der Gewaltfreiheit annähert: ‚wie man unmenschliche Befehle nicht befolgt‚, das ist für mich die Definition von Gewaltfreiheit”.
Die Lichter der Hoffnung
Eine weitere Erfahrung des Widerstandes war die von Tita Radilla, Tochter von Rosendo Radilla, in den 70ern sozialer Anführer in Guerrero, der dort 1974 bei einer Militärkontrolle gewaltsam entführt wurde. Seit 41 Jahren sucht seine Tochter nach ihm und bis heute gibt es keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Sie betonte aber, dass ihre Bemühungen und die ihrer Familie schon zu Veränderungen im Rechtssystem in Mexiko beigetragen haben. Damit steigt auch die Chance, dass andere rechtliche Fälle von anderen Personen nicht straflos bleiben. Sie bezog sich dabei konkret auf ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CoIDH) aus dem Jahr 2010, in dem der CoIDH den mexikanischen Staat für das gewaltsame Verschwindenlassen von Rosendo Radilla verantwortlich macht. Außerdem empfahl der CoIDH, dass Verbrechen, die von Soldaten begangen werden und Personen der Zivilbevölkerung betreffen, nicht vor dem Militärgericht, sondern vor dem Zivilgericht verhandelt werden sollten. Dieses Urteil führte zu einer Reform des Militärgesetzes, das vom Senat der Republik Mexiko im April 2014 verabschiedet wurde.
Eloy Cruz, Mitglied des Rat der Vereinten Völker für die Verteidigung des Río Verde (COPUDEVER) an der Küste Oaxacas, merkte in seinem Vortrag über das Gelernte an, dass “man die Angst vor der Regierung verlieren muss”. Er erzählte, dass die Nationale Kommission für Elektrizität (CFE) in die Gemeinden kam, die sich von dem Bau des Staudamms Paso de la Reina betroffen sahen und sagte, “dass nur sie fehlten (zum Unterschreiben)”. Die Gemeindemitglieder wurden sich darüber klar, dass das eine Strategie der Regierung war, um sie zu überzeugen und “es notwendig war, die 47 Gemeinden zusammenzurufen um klarzustellen, dass wir nichts davon akzeptiert hatten. Es stellte sich heraus, dass das die Strategie der CFE war. Aber um den ejido kümmern wir uns wie sich jemand um sein Haus kümmert”. Diese Art sich gegen die Pläne der anderen zu wehren, sei es gegen die der Regierung oder die der Firmen, ist das, was Pietro Ameglio “no cooperación” (nicht- Kooperation) nennt. Er erklärte dazu: “Das Schema der no cooperación ist der Schlüssel des Zapatismus und des Ghandinismus, die Macht ist in uns, nicht in ihnen, wir brauchen sie nicht bitten etwas zu tun, was sie nicht tun werden, aber wir müssen uns selbst darüber bewusst werden und handeln”. Durch das Bewusstsein wie wichtig es ist, informiert zu sein, haben die Mitglieder der COPUDEVER lokale, nationale und internationale Foren organisiert. Außerdem mischen sie sich in der Bevölkerung ein, indem sie Informationsblätter auf der Straße verteilen oder an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen.
Eine andere Art eine mögliche andere Welt zu schaffen ist die Anzeige, so wie es José Alfredo Jiménez, im Jahr 2015 Präsident der Organisation Las Abejas de Acteal, kommentierte. “Für uns bedeutet der Kampf anzeigen, vor der Gerechtigkeit nicht den Mund zu verschließen. Pazifist zu sein impliziert arbeiten, den Frieden konstruieren. Das kommt nicht von nichts, es entsteht.” Die Organisation Las Abejas entstand im Jahr 1992 und steht seitdem für den Kampf und die Methode der aktiven Gewaltfreiheit. José Alfredo erklärt, dass die Regierung die Probleme der Gemeinden oft als “Konflikte innerhalb der Gemeinden” bezeichnet und somit neue Konflikte schürt. Er erinnert daran, dass “sie genauso die offizielle Version für das Massaker von Acteal benannten”. Anstatt in Scham zu schweigen und zu den Waffen zu greifen um zu kämpfen, entschieden die Schwester und Brüder, die bei dem Massaker von Acteal dabei waren, ihre Stimme zu benutzen: Seit jenem vergangenen Dezember im Jahr 1997 klagen sie ihren Fall der Ungerechtigkeit und der Straflosigkeit seit 18 Jahren an.
In der Videodokumentation “Que el corazón no esté partido”, die SIPAZ 2015 als Teil der Systematisierung des Gelernten in den letzten 20 Jahren produziert hat, erklärt José Alfredo Jiménez der Organisation Las Abejas, dass das Wort “Frieden” in der Sprache tsotsil der Region Los Altos in Chiapas mit jun o’ontonal übersetzt wird, was soviel heißt wie: “ein Herz” oder “dass das Herz nicht gebrochen ist”. Das bezieht sich darauf, dass die Gemeinde vereint bleibt, auch in schwierigen Momenten und Probleme und Konflikte keine Gründe zur Teilung der Gemeinschaft sind. Genauso wie Martha Ramírez, selbst Indigene me’phaa der Region de la Montaña in Guerrero: “Die Großeltern sagen, dass was mit dem Herzen gemacht wird, stirbt nie”. Mit dieser Botschaft des Herzens, begleitet durch die Lichter auf seinem Weg, endete die Veranstaltung zur 20-jährigen Präsenz von SIPAZ in Südmexiko. Feiernd, dass wir mit Hoffnung und Würde kämpfend vorangehen.