AKTUELL : Chiapas – Vom Zuckerbrot zur Peitsche?
26/02/2010ANALYSE : Von Veränderungen und Kontinuität
30/07/2010Am 8. März 2010 folgten hunderte Menschen dem Aufruf der Frauen von der Gruppe Las Abejas im Acteal und demonstrierten im Rahmen des Internationalen Frauentages. Als sie an der Militärbasis in Polhó ankamen, prangerten die Abejas in einer Rede die Rolle der Armee in der mexikanischen Realität an: „Alle Mexikaner leiden an den Übergriffen seitens der Militärs, an illegalen Hausdurchsuchungen, physischer Gewalt, Folter, Misshandlungen und willkürliche Festnahmen“. Dabei erinnerten sie die Soldaten daran, dass: „Auch Ihr habt Mütter, Schwestern, Ehefrauen und Töchter, welche zu Opfern werden können, wenn Ihr blind Befehle ausführt“. Die Abejas beendeten ihre Rede mit den Worten des verstorbenen salvadorianischen Bischofs Oscar Romero: „Kein Soldat ist verpflichtet, einem Befehl zu gehorchen, der gegen das Gesetz Gottes verstößt. Niemand muss ein unmoralisches Gesetz befolgen.“
Dieses war ein Aufruf zum zivilen Ungehorsam, ein Aufruf, sich einem Gesetz oder Befehl zu widersetzen, die man nach seinem eigenen Gewissen als ungerecht, unrechtmäßig oder den demokratischen Werten widersprechend beurteilt. Der zivile Ungehorsam ist ein Kampfinstrument, über das nachzudenken wir Euch hier anregen möchten.
Was lässt sich unter zivilen Ungehorsam verstehen? (3)
Wir wollen das Konzept des zivilen Ungehorsams anhand eines chiapanekischen und mexikanischen Beispiels betrachten. Auch wenn der Begriff des zivilen Ungehorsams in diesem Zusammenhang nicht gebraucht wird, so handelt es sich hierbei um genau diese Kampfstrategie. In dem Beispiel geht es um Bürger, die sich entschieden haben, nicht mehr für ihren Stromverbrauch zu bezahlen, um damit auf die ungerechten und willkürlichen Energietarife sowie auf die Gefahr einer Privatisierung der Energieunternehmen aufmerksam zu machen. Diese zivile Bewegung ist in mehreren Staaten Mexikos aktiv und sammelt sich im Red Nacional de Resistencia Civil a las Altas Tarifas de la Energía Eléctrica (Nationales Netzwerk des zivilen Widerstandes gegen die hohen Energietarife, im weiteren Text als Red Nacional bezeichnet). In Chiapas wird diese Bewegung v.a. in den Gebieten Zentrum und Hochland vom Red Estatal de Resistencia Civil „La Voz de Nuestro Corazón“ (Bundesstaatlichen Netzwerk des zivilen Widerstands „Die Stimme unseres Herzens“) und in der Nördlichen Zone von PUDEE (Pueblos Unidos en Defensa de la Energía Eléctrica; Vereinte Gemeinden in Verteidigung der Energie) angeführt. (Mehr Informationen über die Geschichte der Bewegung findet Ihr in den SIPAZ Berichten von November 2009 und Dezember 2004)
Der zivile Ungehorsam ist sowohl ein demokratisches Instrument als auch ein Instrument des Kampfes. Um zu erklären, wie eine solche Kombination möglich ist, stellt sich zunächst die Frage, was zivil eigentlich bedeutet.
Wir hatten gesagt, dass es sich um ein ziviles Instrument handelt, da es nicht um die Interessen eines Einzelnen geht, sondern um das Gemeinwohl. Im Falle des Widerstandes gegen die hohen Strompreise kämpfen die Bürger nicht für günstigere Tarife, sondern dafür, dass das Wohl der Bevölkerung über den wirtschaftlichen Interessen einiger Weniger steht. Das Wort „zivil“ steht außerdem für eine Anerkennung der Funktion des Gesetzes und der Abkommen innerhalb einer Demokratie: man stellt sich nicht gegen ein Gesetz an sich, sondern gegen eine Ungerechtigkeit. Derjenige, der zivilen Ungehorsam ausübt, ist kein Straftäter, sondern ein Dissident. „Man entsolidarisert sich nicht von der politischen Gesellschaft, zu der man gehört, sondern man lehnt es ab, ihr Komplize zu sein.“ (JM Muller) In einer der letzten Mitteilungen des Red Nacional heißt es etwa: „Wir stellen uns nicht gegen eine gerechte Bezahlung, aber wir widersetzen uns dem Missbrauch.“ (4)
Der Begriff „zivil“ beinhaltet auch, dass die Prinzipien eines „Bürgersinns“ zwischen den Bürgern respektiert werden: „zivil“ heißt also, sowohl bezüglich des Zwecks als auch der Mittel gewaltlos vorzugehen. Als die zivile Widerstandsbewegung gegen die hohen Energiepreise (Movimiento de resistencia civil a las altas tarifas de la energía eléctrica) in Candelaria, Campeche, den Nationalen Preis für Menschenrechte, den „Don Sergio Méndez Arceo“ im März 2010 erhielt, sagte das Komitee: „Dieser gerechte und friedliche Kampf ist eine Warnung an die Mächtigen und ein Aufruf zur Solidarität an die Bürger.“ Der zivile Ungehorsam verstößt gewiss gegen das Gesetz, indem er es als ungerecht betrachtet, was wiederum dem Staat Anlass gibt, den Widerstand als kriminell zu betrachten und zu unterdrücken. Es ist viel Entschlossenheit erforderlich, um in diesem Sinne gewaltlose Haltungen und Handlungen aufrechtzuerhalten.
Der zivile Ungehorsam versteckt sich nicht, sondern er lebt davon, dass er öffentlich ist, weshalb er versucht, eine möglichst breite Außenwirkung zu entfalten. Seine Strategie ist zu versuchen, die öffentliche Meinung zu überzeugen. Es geht also nicht so sehr um den Widerstand gegen das Gesetz, sondern auch darum, die Bürger zu sensibilisieren. Letztendlich ist das, was die die Regierung unter Druck setzt, nicht die Tatsache, dass ihr einzelne Bürger den Gehorsam verweigern, sondern die öffentliche Meinung, die von der Legitimität des Widerstandes überzeugt ist. Wer die Gemeinden in der Nördlichen Zone in Chiapas besucht, wird die Plaketten der PUDEE, die eine öffentliche Aufforderung zum zivilen Ungehorsam darstellen, an vielen Häusern sehen. Auf nationalem Niveau verfügt diese Kampagne über verschiedene Werkzeuge: „wir haben Demonstrationen veranstaltet, Versammlungen, Straßenblockaden, Foren, Treffen, Schließungen von öffentlichen Gebäuden, Flugblätter, Wandzeitungen, Diskussionsrunden, Workshops für die Ausbildung von Technikern für die Gemeinschaft und Hungerstreiks, wie den, den unsere compañeros machten, die als gewaltlose politische Häftlinge in Haft sitzen“ (4)
Der zivile Ungehorsam ist eine Tat der Verantwortung. Jenseits des Gesetzes zu handeln, bringt ein Risiko mit sich und die vorgesehenen Bestrafungen haben die Aufgabe, diejenigen, die das Gesetz brechen wollen, davon abzubringen. Sich der Justiz des Staates entgegenzustellen, bedeutet dennoch nicht, die Strafe dafür akzeptieren zu müssen: Wenn das gebrochene Gesetz in der Tat ungerecht ist, dann ist es auch die Bestrafung. In Campeche sitzen drei Menschen im Gefängnis, weil sie aktiven Widerstand geleistet haben, jedoch hat die Kampagne für ihre Befreiung bereits die Kampagne der Sensibilisierung der öffentlichen Meinung verstärkt. Sie konnten bisher einige Siege erringen: So erhielten sie den bereits erwähnten Preis und wurden außerdem im gleichen Monat von Amnesty International als Gefangene aus Gewissensgründen anerkannt.
Auf der anderen Seite lässt sich sagen, dass der zivile Ungehorsam sich nicht nur widersetzt, sondern auch anregt: Er ist zivil, da er eine Kraft des konstruktiven Wechsels darstellt. Er widersetzt sich nicht der Demokratie, sondern bestärkt sie, indem er eine bürgerliche Gegenmacht ausübt. Der Vorschlag des Red Nacional basiert auf dem Ansatz, dass der Strom Kollektiveigentum sei und daher die Versorgung mit gerechten Tarifen einhergehen müsse. „Wir haben uns organisiert und gemeinsam auf unserer Versammlung festgelegt, wie hoch der Beitrag ist, den wir bereit sind, zur Erhaltung der Stromversorgung zu zahlen“ (4). Solange sich außerdem der Service des staatlichen Stromversorgers Comisión Federal de Electricidad (CFE) nicht verbessert, werden sich diese Bürger organisieren und sich weiterbilden, um gegebenenfalls die Infrastruktur der Stromversorgung selbst zu verbessern.
Diese Punkte unterscheiden also den zivilen Ungehorsam von einer kriminellen Tat und gestatten es, ihn als demokratisch und legitim aufzufassen, was sich auch in seinem Ausnahmecharakter begründet: es handelt sich um eine Tat von verschiedenen Menschen, die sich zum Widerstand „verpflichtet“ sehen, da sie von den Behörden keine Aufmerksamkeit bekommen. Es ist der letzte Versuch, nachdem alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, wie die Diskussionen mit der CFE, die die überhöhten Stromrechnungen verschickte.
Ethische Kongruenz mit politischer Kraft vereinen
Auch wenn der politische, öffentliche, gewaltlose, verantwortungsvolle, konstruktive und außergewöhnliche Charakter des zivilen Ungehorsams sowohl mit seinem ethischen als auch strategischen Anspruch übereinstimmt, fehlen immer noch einzelne Elemente, damit er eine wahre politische Effizienz erzielt. Der zivile Ungehorsam ist mehr als nur der Ausdruck von Überzeugungen, er beruht auf dem wahren Willen der Bürger, die Macht auszuüben, die ihnen zusteht. Sein Ziel ist es, den Staat zu zwingen, ein ungerechtes Gesetz abzuschaffen oder zu verändern.
Aus diesem Grund muss der zivile Ungehorsam gemeinschaftlich und organisiert sein: je mehr Menschen sich verbünden, desto größer ist ihr Einfluss. Der Zusammenschluss vieler Bürger reduziert auch gleichzeitig die Gefahr eines Irrtums. Solch ein Zusammenschluss findet sich zum Beispiel in den bereits erwähnten bundesstaatlichen und nationalen Organisationen, mittels derer der Widerstand gegen die überhöhten Stromtarife geführt wird. Da mit dem Verweigern des Gehorsams auch das Risiko einer eventuellen Bestrafung einhergeht, erlaubt es der kollektive Widerstand außerdem, diese Ängste zu überwinden und die Gefahr der Unterdrückung im Rahmen des Möglichen zu vermeiden. Diese Solidarität zeigt sich besonders in einem der Prinzipien des Red Nacional: „Wenn es einen von uns trifft, dann trifft es uns alle“.
Die Mobilisierung muss dauerhaft erfolgen, um Erfolg zu haben. Die Macht gibt gewöhnlich nicht wegen eines einzelnen Protestes nach. Je länger eine Protestaktion andauert, desto mehr verschärft sich das Dilemma für den Staat: nicht handeln oder unterdrücken sind die zwei Möglichkeiten, die sich gegen ihn stellen, da sie den Verlust seiner Legitimität aufzeigen. Will er dies vermeiden, bleibt ihm nur der Weg, dem Bürgerbegehren Aufmerksamkeit zukommen lassen. Während auf nationaler Ebene der Zusammenschluss für das Nicht-Bezahlen des Stroms recht jung ist (seit Mai 2009), begann er in Chiapas bereits im Jahre 1994 – wenn nicht früher – und nahm in den letzten Jahren zu. Das bedeutet auch, sich auf Repression seitens des Staates vorzubereiten. Dies zeigt sich für diejenigen, die sich entschieden ihre Stromrechnungen nicht mehr zu bezahlen, darin, dass ihnen der Strom abgestellt wird und sie mit anderen Mitteln, wie dem Wegfall von sozialen Hilfeprogrammen, unter Druck gesetzt werden. Sowohl das eine als auch das andere werden ebenso wie die Stromrechnungen als illegitime Mittel angeprangert.
Der letzte Aspekt der Strategie des zivilen Ungehorsams erscheint uns besonders wichtig: das Durchlaufen einer globalen Analyse, um sich für ein spezifisches Ziel zu entscheiden. Es handelt sich hierbei nicht etwa darum, eine spezielle Ungerechtigkeit zu fokussieren, sondern darum, diese innerhalb des Systems, das sie geschaffen hat, zu verstehen. In unserem Beispiel wird der Kampf für gerechte Energietarife in die Erwartung der Erfüllung der Abkommen von San Andrés eingebunden (Abkommen über die Rechte und Kultur der indigenen Bevölkerung, die gemeinsam von der Regierung und der EZLN im Jahr 1996 unterzeichnet wurden). Auch wenn es sich also bei dem Kampf um gerechte Energiepreise um ein begrenztes und damit erreichbareres Objekt handelt, versucht man damit größere Auswirkungen auf das System zu erreichen.
Vom Ungehorsam zur Hinterfragung eines an sich ungerechten Systems
Der zivile Ungehorsam hat seinen Ursprung in einer individuellen Entscheidung. Wenn es hierbei auf dieser Ebene bleibt, spricht man von einer Verweigerung aus Gewissensgründen. Ein Beispiel hierfür bildet ein in den vergangenen Monaten in der mexikanischen Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema: das am 10. April 2009 in Kraft getretene Gesetz, welches Privatpersonen verpflichtet, ihre Handynummer und ihre Chipkarte im Nationalen Register für Mobilfunkbenutzer (RENAUT) zu registrieren. Das Argument der Regierung für die Durchsetzung dieses Gesetzes ist die Verbesserung der öffentlichen Sicherheit des Landes und die Vermeidung von Erpressungen, Entführungen und anderen Straftaten, die mittels Mobiltelefon begangen werden. Dieses Gesetz wurde in Bezug auf die Rechte auf Freiheit und Privatsphäre hinterfragt, da jeder Bürger bei der Registrierung persönliche Daten wie seinen Namen, seine CURP (Clave Única de Registro de Población- Nummer zur Registrierung aller Bürger) und seinen Wohnsitz angeben muss. Um eine Registrierung aller Mobilfunkbesitzer zu erreichen, wurde mit einer Deaktivierung aller nicht bis zum angegebenen Datum registrierten Nummern gedroht. Nach Ablauf dieser Frist hatten sich 17 Millionen Bürger dafür entschieden, ihr Mobiltelefon nicht zu registrieren. Darunter waren sicherlich Einige, die nichts von dem Gesetz wussten, jedoch gab es auch jenen Teil, der sich bewusst dafür entschieden hat. Um dem Widerstand gegen dieses Gesetz Ausdruck zu verleihen und es bezüglich der Verletzung der Persönlichkeitsrechte und der Zwecklosigkeit des gesamten Prozesses zu hinterfragen, ließ man die kompletten Datensätze von bekannten Politikern verbreiten und forderte die Bürger auf, ihre Mobiltelefone auf deren Namen zu registrieren.
Wenn mehrere Personen etwas aus Gewissensgründen verweigern und sich entscheiden sich zusammenzuschließen, um mehr zu bewirken als nur etwas anzuprangern, spricht man bereits von zivilem Ungehorsam, wie wir im vorhergehenden Beispiel sehen konnten. Wenn andererseits die Bürger in einer repräsentativen Demokratie die Legitimität besitzen, nicht bis zu einem Regierungswechsel zu warten, um ein ungerechtes Gesetz zu ändern (da Gerechtigkeit nicht aufgeschoben werden sollte), gibt es auch eine andere Möglichkeit: wenn „es nicht mehr nur darum geht, sich in einer demokratischen Gesellschaft einem ungerechten Gesetz entgegenzustellen, sondern darum, sich einer ungerechten Regierung zu widersetzen, die bewusst die Grundsätze der Demokratie verletzt, kann sich der zivile Ungehorsam in einen friedlichen Ausstand der Bürger, die nicht mehr nur ein Gesetz, sondern die Macht selbst ändern wollen, verwandeln.“ (JM Muller). Wenn also die Legitimität des zivilen Ungehorsams im Recht der Bevölkerung, gegen eine Ungerechtigkeit in einem demokratischen Staat vorzugehen, verwurzelt ist, dann legitimiert sich der friedliche Aufstand in seinem Recht gegen Unterdrückung vorzugehen, sobald der Staat nicht mehr demokratisch ist.
Der friedliche Aufstand ist auch die derzeitige Strategie (seit mehreren Jahren) der zapatistischen Bewegung, die seit den 12 Tage andauernden Gefechten im Jahr 1994 den Waffenstillstand respektiert. Nachdem die Zapatisten mit ansehen mussten, wie sich verschiedene demokratische Räume vor ihren Forderungen verschlossen und die Verträge von San Andrés seitens der Regierung nicht erfüllt wurden, entschieden sie sich, ihre Autonomie alleine in die Tat umzusetzen. Oder anders gesagt: Sie entzogen sich der Verpflichtung, einer Regierung zu gehorchen, welche sie als ungerecht und illegitim betrachten, und konstruierten eine eigene demokratische Struktur, welche auf den Bürgern basiert und deren Spitze die Juntas de Buen Gobierno (JBG; Räte der Guten Regierung) sind. Die JBG werden von den Vertretern der zapatistischen autonomen Landkreise gebildet. Ihre Mitglieder, Frauen und Männer, werden in einem Rotationsprinzip eingesetzt und sind jederzeit absetzbar, wenn sie den Leitsatz des „mandar obedeciendo“ (gehorchend befehlen) nicht befolgen, da die Losung „das Volk befiehlt und die Regierung gehorcht“ lautet.
Die zapatistische Antwort ist mehr als eine Alternative bezüglich des Problems der politischen Vertretung in demokratischen Prozessen. Sie basiert auf einer Kritik an der Art der Machtausübung in Mexiko und in der Welt. Die folgende Metapher zeigt die Sicht der Zapatisten von der Macht: „Wenn der Aufständische auf den Stuhl der Macht stößt, betrachtet er ihn ausführlich, analysiert ihn, aber anstatt sich zu setzen, holt er eine Feile, so eine für die Nägel, und beginnt mit heldenhafter Geduld die Stuhlbeine zu feilen bis sie seinem Verständnis nach so dünn sind, dass sie brechen würden, sobald sich jemand setzen will, was fast unweigerlich passieren wird“ (Kommuniqué von 2002).
Die Ziele der Anderen Kampagne (eine von den Zapatisten im Jahr 2005 auf nationaler Ebene initiierte politische Initiative) zielt darauf ab, Bedingungen für die Umstrukturierung der sozialen Beziehungen zu schaffen, ein Nationales Programm des Kampfes und eine neue politische Verfassung zu schaffen, die einen neuen Gesellschaftsvertrag darstellt, in dem die Forderungen der mexikanischen Bevölkerung berücksichtigt werden.
Unabhängig davon, ob wir von einer Demokratie in Mexiko (oder anderen Ländern) reden können oder von den alternativen Vorschlägen der Zapatisten, muss man sich bewusst sein, dass das Träumen und Konstruieren von wahrhaft demokratischen Formen ein langer und nicht selten schwieriger Prozess ist, in welchem andere Meinungen als unentbehrlicher Teil für das Fortschreiten und Stärken des bereits Erreichten gesehen werden sollten. Die Zapatisten erklären die „Demokratie„, die sie aufbauen mit den folgenden Worten: „Es ist immer unser Weg gewesen, dass der Willen aller sich im Herzen der regierenden Männer und Frauen befindet. Dieser Willen der Mehrheit ist der Weg, auf dem derjenige, der führt, wandeln sollte. Wenn er sich davon entfernt, was die anderen wünschen, muss das Herz, das führt, weiter wandern zu jemanden, der gehorchen kann. Auf diese Weise entstand unsere Kraft in den Bergen. Derjenige, der regiert, gehorcht, wenn es wahr ist und derjenige, der gehorcht, regiert durch das gemeinsame Herz aller wahrhaften Frauen und Männer. Ein anderes Wort kam von weit her, damit diese Regierung einen Namen erhält und dieses Wort gab unserem Weg, der bereits existierte bevor die Wörter existierten, den Namen ‚Demokratie‘.“ (Kommuniqué von 1994)
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Vom Gehorchen zum Gehorsam verweigern: Die zwei Tugenden der Bürger (1)
Das Konzept der Demokratie ist vor allem eine zu konstruierende Utopie. Es stammt aus dem alten Griechenland und ist ein Zusammenschluss der Wörter „demos„, was sich mit „Volk“ übersetzen lässt, und „krátos„, was „Macht“ oder „Regierung“ bedeutet. Das Ideal der Demokratie ist auf die Bildung einer Organisationsform oder Regierung gerichtet, die „vom Volk, durch das Volk und für das Volk“ ist und in welcher die Macht oder die Entscheidungen zwischen allen Bürgen aufgeteilt sind. Diese Demokratieform basiert auf einer Einigung der Gesellschaft, in welcher die Anerkennung einer Reihe von Abkommen, Regeln oder Gesetzen und der Willen ihrer Mitglieder, nach diesen Prinzipien zu leben, ausgedrückt ist.
In der Praxis gibt es viele Varianten von Demokratie, auch wenn zu oft versucht wurde, ein einziges Demokratiemodell geltend zu machen: In den Ländern des globalen Nordens, deren Entwicklung auf einer indirekten oder repräsentativen Demokratie erfolgt, wurden Arten des Zusammenlebens anderer Völker, die mehr auf einer direkten Demokratie basierten, verdrängt. Um den Bürgern mehr Verantwortung zu geben, versuchte man, auch in den Demokratien der Länder des Nordens, Mechanismen der Teilnahme und Gegenmacht (zu der Regierung)zu schaffen.
Das demokratische Ideal beinhaltet Gleichheit und Machtverteilung zwischen den Bürgern. In großen Gesellschaften ist die Wahl von Vertretern, die von den Bürgern die Entscheidungsmacht bekommen, das am häufigsten angewandte Modell. Eines der größten Risiken dieses Modells ist, dass die Stimme des Bürgers nur im Moment der Wahl gilt, während die grundsätzliche Erfordernis der Demokratie im Dialog liegt, in der Fähigkeit Abkommen abzuschließen und abzuschaffen, um sich den erforderlichen Veränderungen anzupassen. Ein anderer Aspekt, der weitere Risiken mit sich trägt, ist die Tatsache, dass die Wahlen meist auf dem Mehrheitsprinzip basieren, was sogar antidemokratische Auswirkungen annehmen kann, wenn es die Grundrechte von Minderheiten oder Individuen betrifft.
Jenseits der Risiken, die sie mit sich bringt, erfordert die Umsetzung der Demokratie den Gehorsam der Bürger bezüglich der Gesetze, die sich aus dem Zusammenleben ergeben. Es ist hierbei wichtig zu unterstreichen, dass Gehorsam nicht gleichbedeutend mit Unterwerfung ist. „Unterwerfung“ bedeutet „sich dem Willen anderer auszuliefern“. Es beinhaltet, nicht über das Warum nachzudenken. Das Wort Gehorsam kommt stattdessen vom Lateinischen „oboedire„, was „aufmerksam sein gegenüber“, „berücksichtigen“ bedeutet. In diesem Sinne enthält der Gehorsam das Ausüben der Willensfreiheit, was eine Tugend des Bürgers ist. (2)
Wenn das „Gesetz der Mehrheit“ nun also vorgibt, das Richtige zu bestimmen, so bedeutet dies nicht, dass es auch die Gerechtigkeit gewährleistet. Eine demokratische Regierung ist nicht unfehlbar, weshalb für die Bürger die Gerechtigkeit über dem Gesetz der Mehrheit stehen sollte. „Das Gesetz verdient das Gehorchen der Bürger, wenn es im Sinne der Gerechtigkeit ist. (…) Sobald jedoch das Gesetz Ungerechtigkeit hervorruft, sollte es Missachtung und Ungehorsam bei den Bürgern bewirken. (…) Derjenige, der sich einem ungerechten Gesetz unterstellt, macht sich zu einem Teil verantwortlich für die Ungerechtigkeit“ (JM Muller, französischer Theoretiker der Gewaltlosigkeit). Wenn nun die Kanäle der Demokratie verschlossen bleiben und die legalen Mittel ausgeschöpft sind, kann der Bürger seine Entschlossenheit hinsichtlich des demokratischen Ideals mittels Aktionen des zivilen Ungehorsams zeigen. Wenn der Gehorsam eine Tugend des Bürgers ist, dann ist die Gehorsamsverweigerung des Ungerechten seine ergänzende Tugend.
Ghandi, Denker und gewaltloser Kämpfer, der die Unabhängigkeit Indiens mittels Aktionen des zivilen Ungehorsams anstieß, hat diesen schon als Recht und Pflicht zugleich angesehen:
„Niemand ist verpflichtet, an seinem eigenen Niedergang oder seiner eigenen Versklavung mitzuwirken […] Der zivile Ungehorsam ist das immer geltende Recht jedes Bürgers. Er kann sich diesem nicht verweigern, ohne gleichzeitig aufzuhören Mensch zu sein. (sic) […] Die Demokratie ist nicht für diejenigen gemacht, die sich wie Schafsköpfe verhalten. In einem demokratischen Regime schützt jedes Individuum sorgsam seine Meinungs- und Handlungsfreiheit. Jeder Bürger macht sich selbst dafür verantwortlich, was seine Regierung macht. Er muss ihr seine ganze Unterstützung geben, während sie akzeptable Entscheidungen fällt. An dem Tag jedoch, an dem die Gruppe, die an der Macht ist, der Nation Schaden zufügt, ist jeder einzelne Bürger verpflichtet, ihr seine Unterstützung zu entziehen.“
Man kann sich nun fragen (was vor allem diejenigen tun werden, die für Mehrheitsabstimmungen plädieren), welche Gefahren das Verweigern des Gehorsams für die Demokratie mit sich bringt. Weltweit haben viele Fälle von Diktaturen und auch die Geschichte gezeigt, dass die Demokratie von einem treuen Befolgen ungerechter Gesetze und Befehle mehr bedroht wird als von einem Ungehorsam diesen gegenüber. Der zivile Ungehorsam schwächt die Demokratie nicht, sondern schützt und stärkt sie, da er auf ihre Fehler hinweist und sich auf ein Gerechtigkeitsgefühl beruft, welches vom Bewusstsein des verantwortungsvollen Bürgers aus, die Legalität überwiegen kann.
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Verwendete Literatur:
- Jean-Marie Muller, Dictionnaire de la non-violence. Les Éditions du Relié, 2005, pp. 92 a 96 y 100 a 108.
- Maheu-Vaillant E. (sous la dir.), L’autorité, pour une éducation non-violente, Ed. du MAN, 2010, p.89
- Jean-Marie Muller y Alain Refalo en la revista francesa Alternatives Non-Violentes #142 „Eloge de la désobeissance civile. Les désobéisseurs au service du droit.“
- Kommuniqué vom 1. Mai 2010