2010
03/01/2011AKTUELLES : Nationale Mobilisierung gegen die Gewalt
29/04/2011Im November 2010 nahm SIPAZ mit einem Vortrag an der vom „Komitee der Befreiung 25. November“ organisierten Veranstaltung „Oaxaca: Bilanz der Menschenrechte 2006-2010″ teil. Dieser Zeitrahmen wurde deshalb gewählt, da das Jahr 2006 ein Schlüsseljahr für den mexikanischen Bundesstaat war: Im Juni 2006 führte die gewalttätige Unterdrückung eines Streiks der Lehrer zu breiten Protesten in Oaxaca, einer zudem vergeblichen Kampagne, um den Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz (2004- 2010) zum Rücktritt zu zwingen. In diesem Rahmen wurde die Versammlung der Bevölkerung von Oaxaca (APPO) gegründet. Die politische Gewalt und die Demonstrationen dauerten bis zum Eingreifen der Präventiven Bundespolizei Anfang November 2006. Im Verlauf dieses Konflikts gab es unter der Zivilbevölkerung mindestens 18 Tote, 370 Verletzte und 349 Festnahmen. Verschiedene nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen veröffentlichten Berichte, in denen zahlreiche Fälle von Gewalt, willkürlichen Festnahmen, Folter und falschen Anklagen gegen die Demonstranten belegt wurden. Im Jahr 2009 erkannte der Oberste Gerichtshofs in Mexiko (SCJN) aufgrund einer von ihm durchgeführten Ermittlung die Schuld von mehreren hohen Funktionären an den zwischen 2006 und 2007 begangenen Menschenrechtsverletzungen an. Jedoch wurde praktisch kein Funktionär zur Rechenschaft gezogen.
Auch 2010 könnte ein sehr einschneidendes Jahr für Oaxaca sein: Am 4. Juli gewann die aus den Parteien PAN, PRD, PT und Convergencia bestehende Koalition „Vereint für Frieden und Fortschritt“ die Gouverneurswahlen, das Bürgermeisteramt von Oaxaca-Stadt sowie die Mehrheit der Abgeordnetensitze im Kongresshaus. Mit diesem Wahlsieg über die Allianz PRI-Grüne wurde der 80 Jahre dauernden Herrschaft der PRI im Bundesstaat ein Ende gesetzt. Der neue Gouverneur Gabino Cué Monteagudo, der sein Amt am ersten Dezember antrat, versprach, sich den Problemen bezüglich der Menschenrechte in Oaxaca anzunehmen. Amnesty International hatte am 10. Dezember ein Schreiben veröffentlicht, in welchem die Organisation vier wichtige offene Fragen anführt: die Gewalt gegen Migranten ohne Ausweispapiere, die Angriffe auf MenschenrechtsverteidigerInnen, die Lage in der Triqui-Region sowie die Straflosigkeit der Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Krise 2006.
Straflosigkeit in Oaxaca: Auflistung der Schäden
Die Straflosigkeit ist eine in Mexiko wiederholt auftretende Problematik. In verschiedenen Quellen und Gelegenheiten wurde davon gesprochen, dass mehr als 98% aller Delikte unbestraft bleiben. In Oaxaca lässt sich dies anhand verschiedener Themen und Regionen im Bundesstaat belegen.
Ein Beispiel für diese Straflosigkeit sind die Fälle im Zusammenhang mit dem sozialen Konflikt 2006-2007. In einer Mitteilung vom Oktober 2009 fasst die Internationale zivile Kommission für Menschenrechtsbeobachtung (CCIODH) die Ereignisse der Jahre 2006-2007 folgendermaßen zusammen: „vorsätzliche Festnahmen von Anführern, Entführungen und illegale Festnahmen, Androhung oftmals unberechtigter Haftbefehle als politisches Druckmittel, erzwungenes Exil wegen Todesdrohungen, massive Festnahmen und verlängerte Inhaftierung von hunderten Personen, die sich letztendlich als unschuldig herausstellten, Folter, Vergewaltigungen, Verzögerungen und Ungehorsam seitens der für einfache Straftaten zuständigen Richter bei der Umsetzung der von BundesrichterInnen getroffenen Entscheidungen, falsche Anschuldigung von Mitgliedern der Bewegung, um öffentliche Funktionäre zu schützen… sowie dutzende Tötungen, die unbestreitbar politischen Charakters waren (…) wurden bisher nicht von bundesstaatlichen oder föderalen Gerichten aufgearbeitet“.
Auch nach den bewegten Jahren 2006 und 2007, die von massiven Menschenrechtsverletzungen geprägt waren, kam es weiterhin zu zahlreichen Angriffen auf MenschenrechtsverteidigerInnen und soziale Anführer. Zu den kürzlich geschehenen Angriffen zählen die im Oktober 2010 begangenen Morde an Heriberto Pasos Ortiz von der Bewegung für Vereinigung und Kampf der Triqui (MULT), Catarino Torres Peresa vom Komitee für die Verteidigung der Bürgerrechte (Codeci) sowie der im Januar 2011 geschehene Mord am Anführer der Bauerorganisation Central Campesina Cardenista Democrática (CCCD), Renato Cruz Morales, in Oaxaca und an seinem Begleiter. 2009 erarbeitete die internationale Organisation Peace Watch Switzerland einen Bericht mit dem Titel „Untersuchung der Lage der MenschenrechtsverteidigerInnen in Oaxaca“, in dem bestärkt wird, dass „kein einziger der Fälle, die mit Menschenrechtsverletzungen einhergehen, noch Aggressionen, Angriffe oder Bedrohungen gegen MenschenrechtsverteidigerInnen bisher untersucht oder bestraft wurde. Ganz im Gegenteil herrscht eine Straflosigkeit vor, angesichts derer sich Übergriffe und Missbräuche verstärken“. In einigen Fällen (wie in dem von Marcelino Coache, Gewerkschaftler und Aktivist der APPO oder dem der Rechtsanwältin Alba Cruz) dauerten die Morddrohungen, Einschüchterungen und Verfolgungen trotz Verfügungen von Schutzmaßnahmen durch die Interamerikanischen Menschenrechtskommission weiter an.
Darüber hinaus haben die verantwortlichen Behörden in den letzten vier Jahren neun Angriffe gegen Korrespondenten unbestraft gelassen. Der vielleicht bekannteste Fall außerhalb Oaxacas ist der am 27.Oktober 2006 begangene Mord an Brad Will, Journalist und Mitarbeiter von Indymedia. Die Familie des Ermordeten hat die Manipulation der Untersuchungen angeprangert, da möglicherweise bundesstaatliche Regierungsbehörden in den Fall verwickelt waren. Dafür spricht, dass die einzige Festnahme die von Juan Manuel Martínez Moreno war, einem Mitglied der APPO, während die Zeugenberichte auf öffentliche Funktionäre des Landkreises als Täter hindeuten. Mit der Freilassung von Martínez Moreno kehrte der Fall wieder an seinen Ausgangspunkt, die Straflosigkeit, zurück.
Ein weiterer bedeutender Punkt im Zusammenhang mit den Gewalttaten und Morden in verschiedenen Regionen Oaxacas sind jene Fälle, die mit teilweise sehr alten Agrarkonflikten einhergehen und in denen die Interessen der ansässigen Kaziken die Aufklärung oder gar Lösung dieser Konflikte behindern. Nach Zahlen des Kongresses hat Oaxaca im nationalen Vergleich die höchste Anzahl an Agrarkonflikten. Im Moment sind 340 Agrarprobleme bekannt, von denen 127 schwerwiegend sind und sich in soziale Konflikte wandeln könnten. Bei 14 dieser Fälle spricht man sogar von Brennpunkten. Angesichts dieser Problematik erweist sich die Straflosigkeit als ein Teufelskreis, der zu noch mehr Gewalt führt, welche ebenfalls nicht bestraft wird.
Einer der letzten Fällen mit viel Medienpräsenz war der Angriff auf die Menschenrechtskarawane nach San Juan Copala am 27. April 2010, bei dem Bety Cariño, Direktorin der Organisation CACTUS, und der finnische Menschenrechtsbeobachter Jyri Jaakkola ermordet wurden, wodurch die nationale und internationale Öffentlichkeit aufgerüttelt und die Aufmerksamkeit auf die Triqui-Region gelenkt wurde. Diese Region leidet seit Jahren an einem hohen Gewaltniveau, das im Zusammenhang mit dem Kampf um politische, soziale und wirtschaftlicher Kontrolle steht. Jedoch blieben die begangenen Morde und Menschenrechtsverletzungen unbestraft. Selbst in den beiden Mordfällen vom 27. April gab es trotz Untersuchungen der mexikanischen Generalstaatanwaltschaft (PGR) bisher keine bedeutenden Fortschritte.
Ein weiteres Beispiel für die Straflosigkeit sind die gegen Frauen begangenen Gewalttaten, die bis auf wenige Ausnahmen unbestraft bleiben. Der Bürgerbericht 2008-2009 „Femizid in Oaxaca: Straflosigkeit und Staatsverbrechen gegen Frauen“ deckt die zunehmende Ernsthaftigkeit der Problematik auf, wobei Oaxaca einer jener Bundesstaaten ist, in dem die höchste Anzahl an Frauenmorden in ganz Mexiko registriert wurde. In dem Bericht wird überzeugend die Unfähigkeit des Staates dargestellt, das Leben der Frauen zu schützen, rechtsstaatlich zu handeln und Straftaten vorzubeugen. Das nationale Statistikinstitut INEGI hat festgestellt, dass 46% der verheirateten oder gebundenen Frauen in Oaxaxa von ihrem Partner misshandelt werden und mehr als ein Viertel (28,4%) unter „extremer“ Gewalt leiden.
In den vergangenen Jahren kam es zu einem starken Anstieg von Überfällen, Nötigungen, Vergewaltigungen, Verschwinden oder Ermordungen von meist zentralamerikanischen MigrantInnen auf ihrem Weg durch Oaxaca, durch Netzwerke des organisierten Verbrechens oder, wie in einigen Fällen, durch uniformierte Männer. Die Mehrheit dieser Fälle wird aus Angst der Opfer vor Ausweisung aus dem Land nicht angezeigt. Amnesty International berichtete, dass „jedes Jahr tausende Migranten ohne Papiere auf ihrem Weg durch Oaxaca Opfer von Übergriffen werden. Trotzdem scheint es den staatlichen Behörden auf besorgniserregende Weise an Entschlossenheit, Koordination und passenden Mitteln zu mangeln, um den MigrantInnen Zugang zu Recht und Schutz zu gewährleisten“.
Ungenügende Lösungsansätze zur tiefgehenden Problembekämpfung
Nach ihrem Mexikobesuch im Oktober 2010 unterstrich die Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für unabhängige Richter und Anwälte, Gabriela Knaul, dass „praktisch alle Akteure, mit denen ich redete, von einem ungenügenden System zur Untersuchung von Straftaten oder zur Einleitung von Ermittlungsverfahren sprachen, weshalb die Mehrheit der Straftaten unbestraft bleiben würden“. Sie stellte außerdem fest: „Auch wenn es wahr ist, dass die Korruption in unterschiedlichem Grade und Stärke die verschiedenen Institutionen betrifft, so sind doch die Mittel zur Bekämpfung der Korruption bisher nicht ausreichend, um das Phänomen zu beseitigen, das die Glaubwürdigkeit verschiedener Amtsträger des juristischen Systems zerstört“. Obwohl diese Äußerungen sich auf die allgemein vorherrschenden Zustände in Mexiko beziehen, so lassen sie sich sicher auf den Fall von Oaxaca übertragen. Die CCIODH prangerte in einer Pressemitteilung im Oktober 2009 ebenfalls an, dass „der Zugang zu einer politischen oder juristischen Karriere für Personen mit Verantwortung in Ermittlungen und im Schutz der Menschenrechte mehr mit politischen Abmachungen als mit ihrer wahrhaften Verantwortung und Kompetenzen verbunden ist und damit eine Bremse für eine wahrhafte Gerechtigkeit darstellt“.
Im Juli 2008 beschrieb der Leiter des mexikanischen Arbeitgeberbund COPARMEX die in Oaxaca vorherrschende Lage folgendermaßen: „Hier können Sie zwei junge indigene NachrichtensprecherInnen umbringen und es passiert nichts. Sie können jemanden entführen und es passiert nichts. Sie können ein Haus ausrauben und es passiert nichts. Sie können eine Straftat begehen und es passiert nichts“. Unterlassung, fehlende Antworten oder Fortschritte ist ein erster Ausdruck von Straflosigkeit. Sie überträgt sich in einem Mangel an Anstrengungen in Form von Prävention (ein klares Beispiel hierfür ist die Triqui-Region). Amnesty International sprach in einem Bericht über die Menschenrechte 2006-2007 davon, dass: „der Mangel an Sorgfalt seitens der Fahnder ein Schlüsselhindernis darstellt, wenn es darum geht, der allgemeinen Straflosigkeit, wie man sie in den Systemen der öffentlichen Sicherheit und Kriminaljustiz in Mexiko vorfindet, ein Ende zu setzen“.
Es gab auch Lösungsansätze, die den Status quo trotzdem nicht geändert haben, wie zum Beispiel die Empfehlungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission nach ihrem Besuch in Oaxaca im Sommer 2007, die zu einer Reform der Staatlichen Menschenrechtskommission, zu einer Staatsreform und zur Behandlung einiger bestimmte Fälle führten. Jedoch könnte man die Willkür der Freilassungen der Gefangenen genauso hinterfragen wie deren Festnahmen: Sie wurden wegen der Verhandlungen und des politischen Drucks freigelassen und nicht wegen der Effizienz des Justizapparats. In allen Fällen stehen Gerechtigkeit und Wiedergutmachung noch aus.
Eine weitere Lösung, die bisher kein Fortschritt darstellt, war die strittige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Mexiko (SCJN) im Fall Oaxacas. Es ließ sich ein guter Anfang erkennen, als der SCJN im Jahr 2007 erklärte: „Wir können nicht erlauben, dass willkürliche Festnahmen und Folterungen von Gefangenen zu einem Normalzustand in unserem Land werden… Die Menschen in Oaxaca lebten, und leben vielleicht noch immer, in einem Zustand der emotionalen und juristischen Unsicherheit… Es scheint logisch, dass die Menschen in Unruhe leben angesichts von Behörden, die die Staatsmacht unbegrenzt und bis zu dem Grad nutzen, um Menschenrechte, die Teil unseres juristischen Systems sind, zu negieren“. Die Schlussfolgerungen des Prozesses waren jedoch zumindest eingeschränkt: Der Oberste Gerichtshof schloss damit, dass Ruiz für schwere Menschenrechtsverletzungen in Oaxaca im Jahr 2006 verantwortlich war. Trotzdem wurde er weder strafrechtlich belangt, noch begannen sie einen Prozess zu seiner Amtsenthebung und ließen dies in der Verantwortung des Landesparlaments.
Im Juli 2010 ergab sich dann tatsächlich die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Ulises Ruiz. Allerdings charakterisierten Vertreter von PAN, PRD, PT und Convergencia diese Initiative von Anfang an als „simuliertes Verfahren“ voller Gesetzeslücken. Der Prozess endete dann tatsächlich in einer Entlastung Ulises Ruiz, da noch bis Ende 2010 die Mehrheit der Abgeordneten im Kongress seiner Partei (PRI) angehörte.
Zuletzt muss noch gesagt werden, dass den föderalen Organen in mehr als nur einem Thema eine Verantwortung sowohl in Bezug auf Taten als auch auf Unterlassungen zukommt. Bei einem Treffen mit der Leiterin der Abteilung zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte des Innenministeriums wurde uns mitgeteilt, dass 40% der aktuellen Fälle, mit denen sie sich beschäftigen, mit Oaxaca zu tun haben. Eine Schwierigkeit hierbei ist allerdings, dass zwischen föderalen und bundesstaatlichen Instanzen die Verantwortung hin und hergeschoben wird. Wenn es der föderalen Ebene zu Gute kommt, dann erkennt sie die Autonomie der Bundesstaaten an. In anderen Fällen können die Bundesstaaten sich von der Verantwortung abgrenzen, indem sie auf die Zuständigkeit der Bundesebene hinweisen (wie zum Beispiel bei der Problematik der Militarisierung). Trotzdem ist die Zuständigkeit der föderalen Ebene ein Element, das man bei der Gestaltung von Verteidigungsstrategien beachten sollte, besonders da die Rechtsinstanzen innerhalb des mexikanischen Justizsystems ausgeschöpft werden müssen, um einzelne Fälle vor internationale Institutionen wie die Interamerikanische Menschenrechtskommission bringen zu können.
Aus Sicht der Zivilgesellschaft lässt sich sagen, dass eine der Schwierigkeiten in Bezug auf die Straflosigkeit die Zeit ist, die sich weiterdreht und sich die Fälle von heute zu denen von gestern gesellen. Dies ist eine der vielen Herausforderungen für die Zukunft: wie man trotz der Forderungen von heute nicht dem Vergessen nachgibt, wie man weiterhin gegen die Straflosigkeit kämpfen und sich den neuen Fällen annehmen kann, ohne dabei automatisch ausschließlich in eine Abwehrposition zu verfallen und in ihr stecken zu bleiben. Ein gutes Beispiel können uns die 2006-2007 festgenommenen ehemaligen Gefangenen sein, die sich weiterhin organisieren und für Gerechtigkeit und Entschädigung kämpfen. Im Rahmen der Beerdigung von Beatriz Cariño wurde trotz des Schmerzes bekräftigt: „Wir werden sie nicht beerdigen, wir werden sie pflanzen, denn sie ist eine der schönsten Blumen und ihr Beispiel wird Früchte tragen“.