SIPAZ Aktivitäten (Von April bis Juni 2006)
31/07/20062006
01/01/2007Zwischen Juli und August 2006 wurden aus den Gefängnissen in Chiapas drei Todesfälle gemeldet. Zwei ereigneten sich im „El Amate“ (Zentrum für soziale Resozialisierung; Cereso 14) und einer im Gefängnis von Chiapa de Corzo. Alle wurden von den Behörden und der Staatsanwaltschaft als natürliche Tode dargestellt, Folter ausschließend, obwohl die Autopsien verdächtige Tathinweise lieferten. So verstarb José Gabriel Velázques Pérez, der 34 jährige Zimmermann, am 27. August im Gefängnis von Chiapa de Corzo aufgrund eines Traumas und massiver innerer Blutungen im Unterleib, wahrscheinlich hervorgerufen durch Schläge. Er wurde im Haus seiner Mutter festgenommen. Während der Festnahme setzten die Beamten Tränengas ein, während des Transportes nach Chiapa de Corzo wurde er von den Kräften der „Fuerza Publica“ (Polizeieinheit in Mexiko) geschlagen. Nach der Zeugenaussage der Ehefrau von José sagte er: „Hol mich hier raus, denn ich sterbe, ich will Sauerstoff, sie schlagen mich, hol mich raus, hol mich raus, sie schlagen mich, die Polizisten.“ Ein paar Stunden danach wurde sein Tod bekannt.
Dieses sind Beispiele eines viel weiter verbreiteten Phänomens. Mehrere internationale Organisationen, darunter Amnesty International, Human Rights Watch und die UNO haben aufgezeigt, dass die Anwendung von Folter in Mexiko weiter gegenwärtig ist. Es handelt sich um ein Phänomen, das nur sehr schwer ausrottbar ist; da die Folter institutionalisiert und direkt mit der Ausübung der Macht in vielen Organen des mexikanischen Staates verbunden ist. Das Rechts- sowie das Strafsystem sind von dieser Erscheinung nicht ausgenommen und weisen große Widersprüche zu den mexikanischen Gesetzen und grundlegenden, international anerkannten Rechten von Untersuchungshäftlingen und verurteilten Strafgefangenen auf.
Straffreiheit: ein endemisches Problem
Die Anwendung von Folter kann zum Teil aus der Unzulänglichkeit des kriminalistischen Untersuchungssystems und der Gerichtsmedizin herrühren. Die Straffreiheit in Mexiko „erreicht Niveaus zwischen 95% und 98%“ laut dem Bericht von 2001 des UN-Sonderberichterstatters über die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Dato Param Cumaraswamy. Er beschreibt diese Situation als endemisch und geht dabei bis zur Vermutung der Verneinung des Rechtsstaates. Die Menschenrechtsverletzungen, die Straffreiheit unterstützen und garantieren, wurden mit Sorge von verschiedenen NGOs, der UNO und den Interamerikanischen Gerichtshof beobachtet, welche die mexikanischen Behörden dazu aufforderten, diese Situation zu stoppen.
Amnesty International zeigt verschiedene Aspekte von Straffreiheit auf, die die Menschenrechtsverletzungen zu umgeben pflegen: an erster Stelle die Beschränkung in der Art und Weise, in welcher die Staatsanwaltschaft die Zivilprozesse betreut. Zweitens: der Fakt, dass die Fälle von Menschenrechtsverletzung, in welche Mitglieder des Militärs verwickelt sind, vor Militärgerichten verhandelt werden. Wir können den Fall der illegalen Verhaftung, Vergewaltigung und Folter von drei Tzeltal-Frauen aufzeigen, damals 12, 15 und 17 Jahre, nahe Altamirano, Chiapas, im Juni 1994. Keiner der Verantwortlichen, laut Zeugenberichten Militärangehörige, wurde bestraft und der Fall wurde bis vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission gebracht. Drittens: die Betrachtung erzwungener Geständnisse als Beweis von Seiten der Richter.
Zum letztgenannten Punkt: Nicht selten werden gefangene Personen durch Sicherheitskräfte und Gefängnisbehörden zu bestimmten Zeugenaussagen unter Folter gezwungen. Ein Beispiel: Am 4. Juli 2006 wurden Gonzalo Sánchez López und Manuel Gómez Santis durch staatliche Einheiten festgenommen und geschlagen. Laut der Zeugenaussagen wurden ihnen Plastiktüten über den Kopf gezogen, die sie fast ersticken ließen, bis bei Manuel die Ohnmacht eintrat. Schließlich unterzeichneten sie ein Schuldgeständnis. Manuel brachte man zum Tatort des Totschlags, dessen man sie beschuldigte. Man steckte ihm die Mündung einer Pistole in den Mund, damit er gestehen würde, wo er die Leiche versteckte, die man nicht gefunden hatte. Beide befinden sich weiterhin in Haft.
Andere beunruhigende Aspekte, hervorgehoben durch Amnestie, sind der fehlende Zugang zum Recht der indigene Bevölkerung, obwohl 10% der mexikanischen Bevölkerung Indigene sind (ungefähr 30% in Chiapas, die Mehrheit der Gefängnisinsassen in diesem Staat sind Indigene). Trotzdem es laut Gesetz vorgesehen ist, existiert in der Praxis ein nur spärlicher Zugang zu Dolmetschern für indigene Sprachen für die festgenommen Personen.
Aufgrund der nicht angemessenen Verteidigung gibt es in vielen weitere Hindernisse im Zugang zur Gerechtigkeit: die amtlichen Verteidiger lassen es an einer angepassten Vorbereitung mangeln, sind schlecht bezahlt, werden mit Arbeit überhäuft und genießen keine ausreichende Unabhängigkeit von der Staatsanwaltschaft, was ihre Unparteilichkeit gefährdet. Weiterhin verhalten sich auch die Richter nicht unabhängig: Der UN-Sonderberichterstatter über Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten gab nach einem Besuch in Mexiko 2001 an, dass zwischen 50% und 70% der Richter auf Bundesebene korrupt sind, was „ein gewaltiges soziales Problem schafft.“ Der Einfluss des Drogenhandels schädigt die juristischen Organe ebenfalls ernsthaft, indem er den Korruptionsgrad noch erhöht.
Rückstände bis heute
Bei ihrem Amtsantritt versprach die Regierung Fox (2000-2006), die Menschrechte zu respektieren und den Rechtsstaat zu stärken, indem sie die Verfassung reformieren würde, um eine stärker bekundete Präsenz dieser Grundsätze des allgemeinen Rechtes zu erzielen. Amnesty International zeigte seine Zufriedenheit über diese Absichtserklärung. Trotzdem lies sich mit dem Fortschreiten des 6. Amtsjahres beobachten, das die Straffreiheit sich weiter durchsetzte und durchsetzt, sowie die angekündigten Mittel nicht angewendet wurden, wie der Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission über Folter, Nigel Rodley, im März 2002 zeigte.
Die seltenen Fortschritte, die man unter der Präsidentschaft Fox im Rechtssektor erreichte, wurden im März 2006 erneut von Manfred Nowak, neuer UN-Sonderberichterstatter zu Folter, innerhalb seiner Vorschläge zur Verbesserung der Umsetzung der Pflichten des mexikanischen Staates als Unterzeichner der Konvention gegen Folter und weiterer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlungen und Strafen, untersucht. Von den Vorschlägen, die 1997 vom Sonderberichterstatter zur selben Thematik gemacht wurden, wurden nur wenige von der mexikanischen Regierung angenommen.
Die Ministerialgeständnisse (vor der Polizei und ohne die Anwesenheit eines Richters gegeben) werden weiter als Beweise genutzt, obwohl die Regierung Fox eine Reform voranbringen wollte, nach der als einzige zulässige Aussagen jene gelten, die vor dem Richter gemacht werden. Diese Reform wurde vom Senat abgelehnt, genauso wie der Vorschlag, wonach die Unschuldsvermutung bei Fällen, die im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität stehen, respektiert wird. Eine weitere Empfehlung, die nie umgesetzt wurde, ist die Abschaffung der inoffiziellen Haft (arraigo), welche in Mexiko im großen Maßstab angewandt wird und es der Polizei gestattet, eine Haft bis auf 60 Tagen auszudehnen, wenn man die verhaftete Person einem Staatsanwalt vorgeführt, auch wenn weder ein Verbrechen noch eine Verantwortlichkeit festgestellt wurden. Es soll noch hinzugefügt werden, dass laut Human Rights Watch mehr als 40% der Insassen mexikanischer Gefängnisse sich in Untersuchungshaft befinden; was bedeutet, dass sie nie eines Verbrechens angeklagt wurden und auf ihren Gerichtsprozess warten.
Weitere nicht beachtete Empfehlungen sind: die Entschädigung von Folteropfern durch Staatsbeamte und der Zugang zu unabhängigen Ärzten, beides Punkte, die im Protokoll von Istanbul von 2001 vorgesehen sind, die Unabhängigkeit der Richter in Prozessen gegen Regierungsbeamte oder die gesetzliche Beschränkung der Dauer von Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen sowie Fällen von Folter. Tatsächlich besteht weiterhin eine Situation der Amnestie oder Straffreiheit gegenüber Elementen der Sicherheitskräfte, die Grundrechte verletzten, sowie in Fällen der Bedrohung und Belästigung von Menschenrechtsverteidigern.
Amnesty International zeigt auch auf, dass es immer noch außergerichtliche Hinrichtungen und das „Verschwindenlassen“ gibt, beides durchgeführt, ohne, dass nach den verantwortlichen Personen gefahndet wird. Man beobachtete außerdem, dass weiterhin willkürliche Verhaftungen, Folter und Misshandlungen durch Vertreter der Autoritäten stattfinden. Immer noch sterben verhaftete Personen durch Folter, die ihnen während der Haft zu gefügt wurde. Am 22. Juli 2006 kam der indigene Tzotzil Jesús Hernández Pérez Im Gefängnis Amate ums Leben. Seiner Familie teilte man mit, dass er das Essen nicht vertrug und er einem natürlichen Tod erlag. Seine Witwe, die Blutergüsse und Kratzwunden in seinem Gesicht sah, glaubt an einen offensichtlich gewaltsamen Tod, was auch im Totenschein bestätigt wurde. Trotzdem wurde die Beerdigung seines Leichnams angeordnet, obwohl die Pflicht zu einer vollständigen Untersuchung von Todesfällen der Personen unter staatlicher Obhut besteht. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas hat gefordert, die Untersuchung dieser Tatbestände einzuleiten.
Die bezeichnende Existenz politischer Gefangener
„Nichts ist mehr auskunftsgebend über die Situation der Menschenrechte in einem Staat als die Existenz von politischen Gefangenen“, sagte Paulo Sergio Pinheiro, UN-Sonderberichterstatter in Myanmar (Burma). In Mexiko ist die genaue Anzahl politischer Gefangener bis zu heute nicht bekannt. Sie ist abhängig von der Definition des Begriffes „politischer Gefangener“ und seiner Beziehung zum Begriff „Gefangener aus Gewissensgründen“. Ein politischer Gefangener ist jede natürliche Person, die sich im Gefängnis oder einer anderen Form von Gefangenschaft befindet, weil ihre Vorstellungen eine Herausforderung oder Bedrohung des bestehenden politischen Systems vermuten lassen, egal welcher Natur. Spricht man von Gefangenen aus Gewissensgründen, schließt das sowohl politische Gefangene als auch jene, die aufgrund von religiösen oder philosophischen Überzeugungen inhaftiert sind, ein.
Entsprechend der Liste über politische Gefangene und Gefangene aus Gewissensgründen, erstellt vom Komitee Cerezo, gibt es 395 Gefangene dieser Art in Mexiko. In Chiapas währen es mehr als 50 politische Gefangene, obwohl wesentlich mehr als Gefangene aus Gewissensgründen bezeichnet werden. Oft sind politische Gefangene Mitglieder oder Leiter sozialer Organisationen oder Personen, die in irgendeine politische Aktivität involviert sind. Regelmäßig werden sie wegen Entführung oder Totschlag angeklagt, was sich im Nachhinein als vorgefertigtes Delikt herausgestellt, und gezwungen, Zeugenaussagen vor dem Richter abzugeben.
Ein politischer Gefangener zu sein kann einen relativen Vorteil bilden, verglichen zu anderen Gefangenen, die noch abgesonderter sind und daher noch verletzbarer. Im Cereso Nr. 14 „El Amate“ haben sich mehrere Gefangene als „Die Stimme von El Amate“ organisiert, die sich als inhaftiert aufgrund der Unterstützung des Ejército Zapatista de la Liberación Nacional (zapatistisches Heer der nationalen Befreiung, EZLN) und der Otra Campaña (Andere Kampagne, pazifistische, politische Kampagne, initiiert durch das EZLN) ansehen. Sie setzen damit die „Stimme von Cerro Hueco“ fort (benannt nach einem anderen Gefängnis, welches geschlossen wurde), die als Antwort auf die massenhaften Verhaftungen von Personen während des Aufstandes des EZLN 1994 entstand. Seit Januar 2006 protestiert die Gruppe gegen ihre Verhaftung und fordert die Anerkennung ihrer Mitglieder als politische Gefangene. Auf der anderen Seite, entsprechend Berichten von Menschenrechtsorganisationen, versuchte die Gefängnisverwaltung andere Inhaftierte dazu zu bringen, die Mitglieder der „Stimme von El Amate“ zu belästigen und zu bedrohen.
Außerhalb des Gefängnisses hat die Otra Campaña dem Thema der Verteidigung und Befreiung ihrer Gefangenen Priorität eingeräumt, mehr noch nach den Repressionen in Atenco im vergangenen Mai. Im Rahmen seiner Tour hat der Delegado Zero (Delegierter Null / Subcomandante Marcos) verschiedene Gefängnisse des Landes besucht.
Besorgnis erregende Zustände in den Gefängnissen
Die Zustände in den Gefängnissen weisen erheblich von den gesetzlichen Vorschriften ab. In vielen wird Überbelegung geduldet, kommt es zu Gewalt gegenüber den Gefangenen und es mangelt an entsprechend ausgebildeten Personal sowie den nötigen sanitären Einrichtungen. Besonders alarmierend ist, dass in einigen Gefängnissen Gefangene als Wächter und Aufpasser angestellt werden. Es bildete sich ein paralleles Autoritässystem, dass von der Gefängnisdirektion toleriert wird, mit Ämtern, die von Gefangenen begleitet werden (z.B. die „Notwendigen„). Andere beunruhigende Tatbestände sind die existierende Korruption (welche die Autorität in den Gefängnissen untergräbt und in Missbrauch ausartet) auf der einen Seite und die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Banden, die dem Drogenhandel angehören, im Inneren der Gefängnisse auf der anderen.
Die Menschenrechtsorganisationen, nationale sowie internationale, geben ihre Bestrebungen zur Sichtbarmachung der Auswüchse und Mängel des mexikanischen Strafsystems nicht auf. Trotzdem haben sie bisher keinen grundlegenden Wandel in der Regierungspolitik erreicht, genauso wenig wie in der Einstellung des öffentlichen Bewusstseins in dieser Hinsicht – sie sieht den Gefangenen als schuldig an, gegen die soziale Ordnung zu verstoßen und daher seine Strafe ableisten muss.
Mängel gibt es bei der Behandlung den Gefangenen auch aus psychologischer und sozialer Hinsicht. Ab dem Moment ihrer Verhaftung durchleiden die sie eine schmerzhafte Abfolge von Ungerechtigkeiten, die Misshandlung und Folter einschließt, und nicht immer im familiären und sozialen Umfeld sowie bei sozialen und politischen Organisationen, denen sie angehören, auf die Solidarität stößt, die sie brauchen. Nach dieser Abfolge von sich wiederholenden Leiden, manchmal über Jahre hinweg, ist Resozialisierung und Wiederaufnahme eines „normalen“ Lebens in Freiheit nur wenig wahrscheinlich.
Trotz des gesetzlichen Rahmens in Mexiko, der durch den Artikel 133 der Verfassung den unterzeichneten internationalen Abkommen den Vorzug einräumt, und somit verschiedene internationale Konventionen zum Schutz der Menschenrechte im Bezug auf das Strafvollzugssystem und dem Verbot von Folter anerkennt, unterscheidet sich die Praxis stark von dem, was durch diese Konventionen festgelegt wird. Man sagt, dass Gefängnisse das Spiegelbild jeder Gesellschaft sind, was zu noch viel tiefgründigeren Betrachtungen einlädt.